Granatsplitter
Rüdigers Arroganz mehr und mehr gegen den Strich. Umgekehrt hatte er den Eindruck, dass Rüdiger sich von ihm herausgefordert fühlte, ohne dass es irgendeinen bestimmten Grund dafür gegeben hätte. Sie waren nicht in der gleichen Klasse, konkurrierten nirgendwo, eigentlich auch nicht beim Theaterspiel, außer dass Rüdiger beleidigt war, dass er ihn in der Rolle des Tempelherrn ersetzt hatte. Konnte das möglich sein? Es hatte jedenfalls Folgen bei der Aufführung. Diesmal gab es nämlich eine Duellszene, die er sich seit dem Hamlet -Film mit dem berühmten englischen Schauspieler immer schon gewünscht hatte, dessen Namen Laurence Olivier er nun nicht mehr vergaß. War es Zufall oder nicht – jedenfalls berührte das Florett des einen die Hand des anderen so heftig, dass es schmerzte und dann blutete. Im Handumdrehen wurde aus dem sorgfältig einstudierten Wechsel der Degen ein Gegeneinanderschlagen der Klingen. Es war ganz deutlich, dass Rüdiger es darauf anlegte, ihn noch einmal an der Hand zu treffen, selbst als die Duellszene eigentlich vorbei war. Im Publikum hatte niemand etwas von der verhaltenen Wut gemerkt, die sie gegeneinander getrieben hatte. In der Pause machte Rüdiger nur eine seiner dreisten Bemerkungen, und ihr Regisseur lächelte versöhnlich dazu.
Nach der Aufführung von Caldérons Dame Kobold und dem gutbestandenen Einjährigen trat ein Wechsel in seinem Theaterspiel ein. Die Zeit, in der er einfache Liebhaberrollen spielte, war zu Ende gegangen. Er hatte nicht vergessen, was der liebenswürdige Deutschlehrer ihm nach der Nathan -Aufführung vorgeschlagen hatte, und er las in den Sommerferien in der Heimatstadt mit immer größerer Anteilnahme Grillparzers Der Traum ein Leben . In dieser Zeit ging er auch, so oft er konnte, in die Aufführungen des Schauspielhauses im Zentrum der Altstadt und noch lieber in die Kammerspiele im Süden der Stadt, nahe des Rheins. Er ging die Strecke besonders gerne zu Fuß, denn dabei kam er an den alten Villen und Gärten vorbei, von denen manche halbzerstört, andere wieder hergerichtet waren. Er konnte in dieser alten städtischen Atmosphäre besser seinen Gedanken vom bevorstehenden Stück nachhängen als in den Straßen zwischen den hässlichen Neubauten in der Nähe des alten Schauspielhauses und der Oper. Eine Schauspielerin namens Irmgard Först und ein Schauspieler namens Walter Kollin hatten es ihm besonders angetan. Kollin spielte hochdramatische Rollen wie den Ödipus oder Egmont, die Först spielte viel in Shakespearekomödien, die Rosalinde zum Beispiel in Wie es Euch gefällt . (Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, selbst später Schauspieler werden zu wollen.) Er ließ ihr Blumen bringen, so wie es sich gehöre, das hatte er gelesen. Das war nach ihrer Rolle in Christopher Frys Die Dame ist nicht fürs Feuer , ein Stück, das ihn vor allem wegen seiner Sprache fesselte, ja begeisterte, und er las deshalb andere Stücke dieses lebenden englischen Dichters, der die Sprache Shakespeares erneuern wollte. Noch immer wirkte nicht nur das, was auf der Bühne vor sich ging, auf ihn wie eine Verzauberung. Auch das Innere des Zuschauerraums vor dem geschlossenen Vorhang hatte noch immer eine tiefe Wirkung auf ihn. Immer wieder dieser Vorhang! Dass es etwas zu verbergen gäbe, nicht bloß die erste Szene, die bald sichtbar werden würde. Die versammelten Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang gaben ihm den Gedanken eines Gemäldes ein. Das war es. Alles war verwandelt. Die Wirklichkeit war zu etwas anderem geworden. In den Pausen stand er nicht einfach alleine herum, weil er keinen sonst kannte, sondern blieb sitzen und las das Theaterprogramm. Einerseits imponierte ihm das, was da zur Erklärung des Stücks geschrieben stand, andererseits fand er es etwas geschwollen ausgedrückt. Es war einschüchternd. Was dem, der das geschrieben hatte, alles einfiel!
Es war eine Zeit, in der er sich vor seinem Vater und dessen zukünftiger Frau verschloss. Der Vater hatte sein Theaterspiel in der Schule mit einer deutlichen Zurückhaltung kommentiert. Zugeschaut hatte er nie. Aber die begeisterten Erzählungen des Jungen von dem Lehrer mit den langen Haaren genügten dem Vater. Ein solcher Mann führe den Jungen in die falsche Richtung. Er lebe schon genug in seinen Phantasien. Das müsse aufhören. Deshalb war er froh, mit der Mutter offen über sein Theaterinteresse reden zu können. Ihr Mann hatte einen Patienten, einen ehemaligen Oberst der deutschen Armee,
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