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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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heilig-glorifiziertes Licht zu rücken und seinen Kontrahenten, den Kommissar, als einen, der seine Pflicht zu töten romantisierte, einen Zerrissenen, das alles kam ihm äußerst seltsam vor. War das überhaupt ein politisches Drama?
    Was seine Rolle für ihn aber so außerordentlich wichtig machte, war, dass er kürzlich neben seinen Schulvorbereitungen mit ungeheurer Spannung in zwei Tagen das Buch Sonnenfinsternis von Arthur Koestler verschlungen hatte. Ganz zufällig war es ihm in die Hände geraten. Zuerst dachte er, als er den blutrünstigen Umschlag einer billigen Ausgabe von 1946 sah, es wäre ein Kriminalroman. Ein dunkles Haus, über dessen Treppenstufen Blut floss. Es begann in einer Gefängniszelle. Er begriff sehr schnell, dass es sich um die Abrechnung mit der sowjetischen Revolution und mit den Moskauer Prozessen von 1936 handelte. Die Verhöre zeigten etwas Grauenhaftes, vor allem die Geständnisse. Er hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich mit dem Thema Kommunismus beschäftigt, im Unterricht wurde auch nicht darüber gesprochen. Die Sowjetzone lag sowieso weit entfernt vom Rhein und vom Schwarzwald, so wie die ostdeutschen Provinzen schon immer. Jetzt aber hatte er Feuer gefangen. Er war nicht an irgendeiner Theorie des Kommunismus interessiert, sondern an dessen prinzipieller Unmenschlichkeit. Die Beschreibung der Unfreiheit war es, die ihn in Bann schlug. Das war ja unbestreitbar. Und wenn das unbestreitbar war, wie konnten dann diese Lehre und dieses System so einen Erfolg haben? Auch in der Zone gab es ja, wie man in der Zeitung lesen konnte, Hunderttausende, die fest und unerschütterlich daran glaubten. Und der Held des Romans hatte ja auch viel zu lange daran geglaubt. Es war das packendste politische Buch, das er seit Kogons Bericht über den SS-Staat gelesen hatte. Die Greueltaten, die in beiden Büchern dargestellt wurden, waren sich ähnlich. Der Umstand aber, dass im Fall des Kommunistischen Regimes die Opfer selbst ihrer Bestrafung zustimmten, wirkte besonders unheimlich. Er war davon so betroffen, weil die Macht der freiheitsabschneidenden Idee offenbar enorm war. Es war eben auch eine Idee, eine schreckliche Idee. Das Buch hatte ein Motto, das unter der Überschrift des ersten Kapitels »Das erste Verhör« stand. Es war der Satz eines der wichtigsten Männer der Französischen Revolution, Saint-Just, und es lautete: »Niemand kann regieren ohne schuldig zu werden.« Den Namen Saint-Just kannte er von Büchner. Dantons, Robespierres und Saint-Justs Reden in Büchners Stück waren so abgezirkelt in ihrer Tendenz und so voll von exotischen Bildern, dass er sie einfach nicht verstanden hatte. Nun aber las er noch einmal Büchners Drama. Nicht alles, aber vor allem das, was Saint-Just sagt. Und da hatte man es ja wieder! Leute wurden umgebracht wegen einer Idee!
    Es war in einer dieser Wochen im Frühjahr 1952, als das Internat von einer höheren Klasse einer Ostberliner Oberschule Besuch bekam. Der Direktor hatte das zu aller Überraschung arrangiert. Die Ostberliner Schüler nahmen für eine Woche am Unterricht teil, auf zwei Klassen der Oberstufe verteilt. Das Wichtigste aber war die Verabredung, am Ende miteinander über ein vorher abgemachtes Thema zu diskutieren. Jeweils drei Schüler aus Ostberlin und drei Schüler des Internats sollten in Gegenwart aller anderen miteinander diskutieren. Es war natürlich klar, dass man über die unterschiedlichen politischen Systeme sprechen würde. Er sollte dabei sein. Das war wahrscheinlich ein Fehler, jedenfalls für ihn. Es gab für ihn nämlich eigentlich nichts zu diskutieren. Das andere System war verbrecherisch. Seitdem er das Buch von Koestler gelesen hatte, gab es da gar keinen Zweifel. Auch die Schüler aus Ostberlin waren sich ihrer Sache absolut sicher. Das war für ihn seit Koestler auch nicht überraschend. Vor allem, wie sie auf die Vorhaltung, sie lebten in Unfreiheit, reagierten, brachte bei ihm das Fass zum Überlaufen: Die westliche Freiheit sei nur eine Freiheit der Reichen! Ein Ostberliner Junge sagte, als Nebenhieb, man sehe auch an diesem Internat, wie die sogenannte Freiheit und das Geld zusammenkämen. Das betraf ihn persönlich nicht, denn der Vater hatte ihm immer wieder gesagt, er solle sich gut benehmen, damit er ein Stipendium bekomme. Das, was der Vater an der Universität verdiente, war nicht ausreichend, sodass er auf das Geld des Familienerbes zurückgreifen musste. Das Wort »Währungsreform« wurde

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