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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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der sich auch noch immer so anreden ließ. Herr Oberst. Der Stiefvater wusste, dass der Oberst ein Theaterliebhaber war und hatte ihm von dem Theaterinteresse seines Stiefsohnes erzählt. Eines Tages sagte die Mutter zu ihm, er solle diesen Oberst doch einmal besuchen, der habe eine Schallplatte mit der Stimme von Josef Kainz. Das war der ihm inzwischen wohlbekannte Name des berühmtesten deutschsprachigen Schauspielers lange Zeit vor dem Krieg, der zuerst in Wien und dann auch in Berlin alle großen klassischen Rollen gespielt hatte. Das Buch mit Fotos von Kainz als Ödipus und Hamlet hatte er sich inzwischen gekauft, deshalb wollte er sich die Einladung des Oberst nicht entgehen lassen.
    Der Oberst wohnte allein in einer der alten Villen auf dem Weg zu den Kammerspielen. Das eiserne Gartentor war etwas verrostet und schloss nicht richtig. Die Tür zum Eingang des Untergeschosses war aus schwerem Holz und hatte ein kunstvolles Gepränge. Die Klingel klang überraschend melodisch. So war er vorbereitet auf das Innere, als der Oberst ihn hereinbat. Er war ein nicht besonders großer fünfzigjähriger Mann mit scharf geschnittenen Zügen und einer spiegelnden Glatze, einem knallroten Hemd mit einer dunkelblauen Krawatte, in der eine Nadel mit Perlenkopf steckte. Er hatte eine alte Uniformjacke des höheren Offiziers an, aber ohne Rangabzeichen. Sehr liebenswürdig führte er ihn in den Hauptraum, der mit dicken Perserteppichen bedeckt war, von denen ein feiner Geruch ausging, der ihn an seine Messdienerzeit erinnerte. Es roch nach Weihrauch und Myrrhe. Irgendwie kam ihm das doch seltsam vor. Die alten messinggoldenen Lampen erzeugten ein Dämmerlicht. Vielleicht war der Oberst auch ein ehemaliger Schauspieler? Sie sprachen zuerst über das Theater im allgemeinen. Er erzählte von seinen Internatsrollen, und der Oberst antwortete, er könne sich ihn gut in diesen Rollen vorstellen. Der Oberst wusste genau Bescheid, er kannte Shakespeares und Caldérons Stücke. Nun sollte er die Stimme von Josef Kainz als Hamlet hören. Es war eine ältere Platte, und die Stimme klang etwas brüchig. Kainz sprach den Monolog »Sein oder nicht sein«. Er zog dabei die Vokale des »ei« in beiden Wörtern unendlich in die Länge. Er selbst fand das merkwürdig, eigentlich unpassend, weil dadurch die Gedankentiefe Hamlets einen falschen Ausdruck bekommen würde. Überhaupt war er von dem Pathos in der Stimme enttäuscht. Es klang so ungeheuer künstlich, nicht wie die Stimme eines kühnen Mannes, der Hamlet doch auch war. Der Oberst war der Ansicht, das läge nur an Kainz’ österreichischem Akzent.
    Sie hatten sich inzwischen auf das prächtige, mit exotischen Stoffen behangene Sofa gesetzt, und der Oberst servierte in kleinen farbigen Gläsern einen süßlichen Likör, der einem ziemlich schnell in den Kopf stieg. Der Oberst rückte näher an ihn heran, sodass sich ihre Knie berührten, und legte plötzlich eine Hand auf seinen linken Schenkel. Es war ihm schon vorher nicht wohl zumute gewesen in dieser Wohnung, und Kainz hatte auch keinen großen Eindruck auf ihn gemacht. Ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, stand er in aller Ruhe auf und sagte, er müsse gehen. Sonst nichts. Auf der Schule hatte er noch nie bemerkt, dass es auch zwischen Jungen körperliche Kontakte gab. Aber er hatte natürlich davon gehört. Jetzt hatte er es selbst erlebt. Der Oberst hatte bei der Verabschiedung so getan, als ob nichts vorgefallen sei. Das war ihm nur recht. Er erzählte aber der Mutter von dem Zwischenfall, und diese war wie immer außer sich und wollte, wie sie sagte, den Oberst zur Rede stellen. Zum Glück konnte ihr Mann sie davon abbringen. Der Oberst war ein guter Patient und kam, wie immer höflich und unbefangen, weiter in die Praxis.
    Die Praxis war nicht nur im Falle des theaterliebenden Oberst der Grund für den schweren Kummer der Mutter. Eine Reihe von Schauspielern, Schauspielerinnen, Sängern und Sängerinnen kamen zu seinem Stiefvater, denn die Praxis lag direkt gegenüber dem alten Opernhaus, das als Ruine noch zu Proben und auch als Kartenverkaufsstelle genutzt wurde. Das im zerbombten alten Einkaufszentrum der Stadt neugebaute Theater hieß im Volksmund »das Grab des unbekannten Intendanten«. Eine modisch besonders auffällige Patientin war der Star der Operette und Ehefrau des Operndirektors, der auch als Filmregisseur bekannt geworden war. Mit dieser aus der Fledermaus und der Csardasfürstin bekannten

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