Granatsplitter
beeindruckt. Er selbst hatte ja immer die Illusion besonders geliebt, dass das Theater Wirklichkeit und gleichzeitig Nichtwirklichkeit wäre. Die Art und Weise, wie Jürg, der ja schon als Schüler in einem realistisch knappen Tonfall gesprochen hatte, in der Rolle des Erzählers auftrat, gab ihm eine neue Idee vom Theater. Es musste »modern« sein! Das Wort »modern« machte die Runde. Auch hierbei war die Regisseurin immer voran. Sie zeigte ein enormes Interesse an allem Neuen, an der neuen Zeit wenige Jahre nach dem Krieg, obwohl sie gleichzeitig beschlagen war in der klassischen Literatur. Vor allem liebte sie klassische Musik. Dass sie auch bei anderen Schülern beliebt war und Einfluss im Leben der Schule gewann, fiel ihm seit längerem auf. Das hatte natürlich auch mit dem Schicksal ihres Mannes zu tun. Als er jetzt die Witwe eines dieser Verschwörer als Mitspielerin vor sich hatte, konnte er gar nicht anders, als sich über ihr Leben Gedanken zu machen. Sie sprach nicht über das, was am 20. Juli 1944 geschehen war, sondern nur von ihren Kindern, fünf Töchtern und einem Sohn zwischen sieben und vierzehn Jahren, die entweder in einem anderen Internat oder auf dem Anwesen einer Verwandten unter der Obhut der Großmutter lebten, wo sie ein halbes Jahr nach der Hinrichtung des Vaters, aus Mecklenburg geflohen, untergekommen waren. Die Regisseurin lebte jetzt ein zweites Leben, ohne über das erste viel zu sprechen, dachte er sich. Irgendwie lebten viele so.
Unsere kleine Stadt hatte ihn fortgeführt von den vergangenen Zeiten und ihrer Romantik. Vorausgegangen war die Inszenierung eines Stückes, das ein berühmter Literaturprofessor namens Max Kommerell nach dem Krieg geschrieben hatte. Es hieß Die Gefangenen und handelte von der geistigen Erbarmungslosigkeit des Bolschewismus. Die Witwe von Max Kommerell wohnte an einem Hang gegenüber der Schule. Sie war befreundet mit dem Direktor, und ihr Stiefsohn war ein Mitschüler im Internat. Ohne diese Verbindung wäre wahrscheinlich keiner auf die Idee gekommen, das Stück aufzuführen. Im Mittelpunkt stand die Diskussion zwischen einem jungen Bolschewisten und seinen Gefangenen, russischen Adligen. Die Lehrerin, die sich das Stück wegen seines Themas als geeignet für eine Schüleraufführung ausgesucht hatte, kam ebenfalls aus einer bekannten preußischen Familie. Im Gegensatz zu der temperamentvollen Frau des 20.-Juli-Verschwörers wirkte sie ungewöhnlich schüchtern und sprach mit einer sehr leisen Stimme. Alles an ihr strahlte Würde aus. Aber trotz ihrer Zurückhaltung war sie sehr entschieden und wusste genau, was sie wollte: Rüdiger sollte einen gefangenen Adligen spielen, der Junge den kommunistischen Revolutionär. Die erneute Theaterverbindung mit Rüdiger war schon Grund genug, an der Sache interessiert zu sein. Sie hatten inzwischen ihre Spannungen begraben. Rüdiger war nach wie vor einer der Schüler der Oberstufe, der ihm durch seine ganze Erscheinung imponierte, nicht nur wegen seiner silbernen Kette. Rüdiger hatte den Einfall gehabt, ein Stück seines Lieblingsdichters Hugo von Hofmannsthal zu spielen, nämlich Der Tor und der Tod , wobei er selber die Rolle des Toren sprach. Das hörte sich eindrucksvoll und schön an, auch wenn man nicht genau verstand, um was es Hofmannsthal eigentlich ging. Rüdiger wirkte jedenfalls so, als ob er es genau wüsste. Die Verse Hofmannsthals klangen in seinem Munde besonders wunderbar. Ihr Verhältnis zueinander war also besser geworden.
Die Rolle von Kommerells Revolutionär in der Uniform eines ehemaligen Kosakenoffiziers war für ihn genau das, was er gerade gesucht hatte. Er hatte Sätze zu sagen wie: »O Träume! / Tags die andern denkend träum ich / Nachts mein Gesicht, das eben mir im Spiegel / fast schön erschien im Übergang von Wahrsein / zur Maske / Die für immer mein Gesicht ist.« Entscheidend aber war, dass das Thema der bolschewistischen Verhöre und Gefängnisse hier als »Schule der Entseelung« verstanden wurde. Die Sprache, in der das geschah, passte aber eigentlich überhaupt nicht zu diesem furchtbaren Stoff. Er wusste, dass der Autor des Dramas ebenfalls ein wichtiges Mitglied des Kreises um Stefan George gewesen war, das merkte man sofort, auch wenn er es nicht im einzelnen hätte erklären können. Das Versmaß war so wie in einem Drama der deutschen Klassiker, und die Wörter erinnerten ihn sogar an Hofmannsthals Verse. Schon die Idee, einen russischen Adligen irgendwie in ein
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