Granatsplitter
Innenstadt vor einem Buchladen stand, sagte plötzlich jemand hinter ihm: »Junge, warum siehst du so ernst aus?« Es war der Vater. Er fühlte sich in seinen Gedanken aufgescheucht und reagierte dementsprechend. Sie hatten sich seit einer Woche nicht gesehen, da er meist bei der Mutter wohnte, zumal der Vater noch immer in seiner akademischen Junggesellenwohnung in der Nähe der Universität lebte. Nach einigem Hin und Her des Gesprächs fragte der Vater: »Warum bist du denn traurig?« Als er die Antwort gab, das könne er nicht genau sagen, entspann sich eine leicht gereizte Unterhaltung über die Frage, ob es eine grundlose Traurigkeit gäbe. Der Vater meinte, es gäbe immer einen Grund, während er selbst das bestritt. Es war ein ähnlicher Streit wie vor drei Jahren, als der Junge behauptet hatte, Platon sei derselbe auch dann, wenn kein Mensch seine Bücher läse, was der Vater völlig unverständlich fand. So gerne der Junge ihn hatte und wie sehr ihn des Vaters Ansichten beeindruckt hatten, jetzt war eine Zeit angebrochen, in der er sich von ihm zurückziehen musste. Die ökonomischen Themen, die der Vater berufshalber anschnitt, interessierten ihn kaum. Der Vater verband damit die Absicht, ihn, wie er sagte, mit dem praktischen Leben vertraut zu machen. Das war der Grund dafür, warum möglichst nicht über das Theater, vor allem aber nicht über die Aufführungen in der Schule gesprochen wurde. Selbstverständlich erwähnte der Junge kein Wort über die innere Vorbereitung auf Der Traum ein Leben . Welch ein Titel! Das hätte dem Vater gerade noch gefehlt.
Mit Beginn der Obersekunda war sein Traum buchstäblich vorbei, der Deutschlehrer hatte sein Vorhaben aufgegeben. Das war ein Schlag. Ein großer Schlag für seine große Erwartung. Überhaupt wurden seine Rollen nun offensichtlich anders. Das begann damit, dass bei der nächsten Aufführung, Thornton Wilders Unsere kleine Stadt , die Rolle des jungen Mannes, der die Mitschülerin heiratet, an einen ehemaligen Schüler vergeben wurde, während er selbst eine winzige Nebenrolle bekam. Er sollte den alten Professor spielen. Eine große Enttäuschung, auch wenn er dann doch Gefallen daran fand, sich äußerlich so sehr verändern zu müssen und auch mit der Stimme etwas Neues zu probieren. Er hatte den Verdacht, sein Vater habe auf die Schule eingewirkt, ihm nicht wieder eine Hauptrolle zu geben. Sein Mentor, einer der beiden Lateinlehrer, hatte ihm gesagt, der Vater sei beunruhigt über seine Theaterspielerei. Die Mentoren, die die Schüler selbst wählten, sollten durch einen kontinuierlichen Briefverkehr die Eltern über die Entwicklung ihrer Söhne und Töchter auf dem laufenden halten. Er hatte Grund zu der Befürchtung, dass sein Mentor Wasser auf die Mühlen des Vaters goss und irgendwelche Greuelmärchen über sein Betragen an den Vater schickte. Umso mehr freute er sich, dass er bei den Proben zu Unsere kleine Stadt wieder mit der Regisseurin, der Frau des 20.-Juli-Verschwörers, zu tun bekam, mit der er sich seit Nathan der Weise ab und zu unterhalten hatte. Von den fünfzehn Rollen bekamen außer ihm nur drei andere Schüler noch eine Rolle. Jürg, der Altschüler, der ihm, wenn dieser manchmal die Schule besuchte, immer imponierte, hatte die Idee gehabt, Thornton Wilders Stück zu inszenieren. Er hatte sich für eine mehrheitlich aus Erwachsenen bestehende Truppe entschieden. Die Regisseurin spielte auch die Rolle der Mrs. Gibbs, der interessante Griechischlehrer den Doktor Gibbs. Seine Mitschülerin Michele – sie sprachen den Namen nicht französisch aus –, die als einzige mit ihm den katholischen Religionsunterricht besuchte, spielte die eigentliche Hauptrolle, Emely Webb, das Mädchen, das von den Toten zu den Lebenden zurückkehrt und wieder zu den Toten. Dass unsere Zeit im Leben eigentlich eine Zeit im Tode sei, dachte er, war ein zutiefst erschreckender Gedanke des Dichters. Überhaupt das Sich-selbst-Zuschauen als Toter im Leben. Dadurch war ja das Leben, das man gerade lebte, kein lebendiges, sondern ein schon vergangenes Leben. Darüber geriet er ins Grübeln.
Jetzt wurde die Frau des 20.-Juli-Mannes für ihn besonders wichtig, weil er mit ihr diese schwierigen Fragen genauer besprechen konnte. Neben ihr spielte Jürg, außer dass er die Regie hatte, die entscheidende Rolle, nämlich den Erzähler, der die Vorgänge kommentierte. Das galt als riesige Erneuerung, die der Dichter für das Theater entdeckt hatte. Alle waren davon
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