Grandios gescheitert
(fiktive) Epidemie, die die Stadt westlich von New York heimsucht. Eine Epidemie, wie sie damals die Vereinigten Staaten immer wieder in Atem hielt und nicht nur, aber vor allem Kinder und Jugendliche erfasst. In Roths Buch erkranken immer mehr Kinder im Viertel Weequahic an Poliomyelitis, an der grausamen Kinderlähmung. Die Bedrohung durch die gefürchtete Infektionskrankheit stürzt die Bewohner des ruhigen jüdischen Wohnviertels in Hilflosigkeit, weil niemand genau weiß, wie die Krankheitserreger sich verbreiten, und demzufolge, wie man sich wirksam dagegen schützen kann. Die Polioviren spielen ein teuflisches Roulette mit den Kindern und Jugendlichen des Viertels.
Als die Zahl der Erkrankungen zunimmt und immer mehr Kinder an Poliomyelitis sterben, werden Mutmaßungen zur Quelle der Infektionen zum wichtigsten Gesprächsthema: »Jemand sagt, man überlege, ob man den schwarzen Putzfrauen verbieten solle, nach Weequahic zu kommen, aus Sorge, sie könnten die Kinderlähmung aus den Slums einschleppen. Ein anderer sagte, seiner Meinung nach werde die Krankheit durch Geld übertragen, durch das Papiergeld, das von Hand zu Hand ging. Es sei wichtig, fuhr er fort, sich jedes Mal, wenn man Papiergeld oder Münzen angefasst habe, die Hände zu waschen. Und was ist mit der Post?, fragt einer. Könnte es nicht sein, dass die Viren mit der Post verbreitet werden? Denkt doch mal an all die Leute, durch deren Hände die Briefe gehen.«
In ihrer ohnmächtigen Verzweiflung machen die Bewohner des Viertels noch andere mögliche Ursachen aus, darunter die Hotdog-Bude an der Ecke. Der größte Konsens besteht darüber, dass die Fliegen unbedingt zu bekämpfen seien, entsprechende Warnungen ergehen auch seitens der Behörden. Wer kann, schickt seine Kinder in die Berge oder ans Meer, die übrigen Eltern versuchen mit allerlei nützlichen und überflüssigen Maßnahmen, ihre Kinder, so gut es geht, zu schützen. Doch die Epidemie greift weiter um sich. Und ein Impfstoff gegen die gefürchtete Infektionskrankheit ist nicht verfügbar.
Geschichte einer Krankheit
Infektionskrankheiten wie Keuchhusten oder Pocken, Masern oder Kinderlähmung haben die Menschheit durch den Großteil ihrer Geschichte begleitet. Sie traten vermutlich vor rund 10.000 Jahren erstmals auf, als menschliche Gemeinschaften groß genug waren, damit sich ihre Erreger halten konnten. Mangelhafte hygienische Zustände begünstigten ihre Verbreitung, andere Krankheiten oder Hunger machten die Menschen anfällig, der Kontakt zu Haustieren begünstigte die Vermehrung vieler Erreger. Vor allem Flöhe, Läuse und verschiedene Fliegenarten dienten ihnen als Wirtstiere und Reservoire. In Europa starb bis ins 19. Jahrhundert gut ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung infolge von Infektionskrankheiten – ganz abgesehen von der ohnehin hohen Kindersterblichkeit.
Eine dieser alten Infektionskrankheiten ist die Poliomyelitis, aber ihre grausame Karriere als plötzlich auftretende Epidemie begann sehr spät. Den größten Schrecken verbreitete sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: in Europa und insbesondere in Nordamerika – also gerade in den entwickelten Ländern, wo die Medizin und die Hygiene insgesamt bereits große Fortschritte gemacht hatten. Entsprechend groß war dort das Gefühl der Hilflosigkeit.
Fünf Jahrtausende, vielleicht länger, hatten die Viren, die Kinderlähmung auslösen, eher im Verborgenen gewirkt, und erst rückblickend lassen sich historische Zeugnisse dahingehend interpretieren, dass die Krankheit gelegentlich vorkam. Die medizinhistorische Forschung vermutet als ihren Ursprung den Nahen Osten: Mesopotamien, Ägypten und Kleinasien am östlichen Ende des Mittelmeers, von wo aus sich Polio in zwei Richtungen verbreitete: über Indien und China vermutlich bis nach Japan, sowie über Ägypten und das klassische Griechenland ins Römische Reich.
In neun von zehn Fällen einer Infektion mit Polioviren bilden sich keinerlei Symptome aus. In den restlichen Fällen beginnt Poliomyelitis wie eine Sommergrippe: als kurzes, fiebriges Unwohlsein mit rauem Hals und Kopfschmerz. Hinzu kommen Brechreiz und ein steifer Nacken und Rücken. Wenn es dennoch glimpflich ausgeht, ist die Sache nach drei bis fünf Tagen überstanden. Mitunter treten anfänglich Lähmungserscheinungen auf, die aber wieder vergehen. Wird es allerdings schlimmer, besteht die Gefahr bleibender Lähmungen, ja des Todes.
Drei verschiedene Virustypen rufen die Infektion
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