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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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hervor, einer davon (Typ 1) ist für die meisten Fälle mit dauerhaften Lähmungen verantwortlich, wenn auch nicht immer. Herd der Viren ist der Mensch; zumeist fungieren solche Leute als Überträger, die sich infiziert haben, ohne dass die Krankheit erkannt wird, und nur schwache oder gar keine Symptome ausbilden. Die Ansteckung erfolgt durch Schmiereninfektion oder, seltener, über die Atemwege; die Symptome treten nach durchschnittlich ein bis zwei Wochen auf. Wer die Infektion überstanden hat, ist gegen den Virustyp immun, mit dem er infiziert war. Es sind keineswegs nur Kinder, die sich mit der Krankheit infizieren können, weswegen der gebräuchliche Begriff Kinderlähmung nicht ganz zutreffend ist. Zumeist ist richtiger von Polio die Rede, in Abkürzung der medizinischen Bezeichnung Poliomyelitis.
    Aus dem antiken Ägypten ist eine kleine Kalkstein-Stele erhalten, die den Wachmann Roma zeigt, der der Fruchtbarkeitsgöttin Astarte opfert. Dieses Artefakt des 14. vorchristlichen Jahrhunderts ist vermutlich ein frühes Zeugnis der Krankheit, denn Roma hat ein deformiertes rechtes Bein und geht an einem Stock. Derart verkümmerte Gliedmaßen sind das typische Überbleibsel einer Lähmung infolge einer Polio­infektion. Aber bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. traten in Ägypten typische Knochendeformationen auf, wie archäologische Untersuchungen ergaben – und auch die lassen sich am ehesten als Folgen einer Poliomyelitis erklären. Auch der Klumpfuß des Pharao Siptah aus dem frühen 12. Jahrhundert v. Chr., der nach nur knapp sechs Jahren Regierung im jugendlichen Alter von zwanzig starb, gilt als Schädigung durch eine Polioinfektion. Daneben gibt es zahlreiche schriftliche Hinweise auf Kinder mit Lähmungserscheinungen und Deformationen, die aber meist nicht ausschließlich auf Poliomyelitis zurückgeführt werden können. Im 4. Jahrhundert v. Chr. erwähnt der berühmte griechische Arzt Hippokrates, bis heute verehrter Begründer der wissenschaftlichen Medizin, in seinen Schriften Verkrüppelungen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit von Kinderlähmung verursacht wurden.
    Zwischen der Antike und dem 18. Jahrhundert bleiben die Nachweise über Kinderlähmung spärlich, aber es gibt eine Reihe von Bilddokumenten, in denen typische Polio-Deformationen erkennbar sind. Darunter ist eine Zeichnung des niederländischen Malers Hieronymus Bosch aus dem frühen 16. Jahrhundert, auf dem ein Mann seinen deformierten linken Fuß am verkürzten Bein auf einen Schemel stellt und sich mit dem Stock in der Rechten abstützt. Auch das Gemälde »Der Klumpfuß« des spanischen Barockmalers Jusepe de Ribera (1591–1652) lässt vermuten, dass wir hier die Darstellung der Spätfolgen einer Kinderlähmung vor uns haben. Und in einer autobiographischen Notiz aus dem Jahr 1808 beschreibt der Dichter der schottischen Romantik Walter Scott seine eigene Erkrankung an Polio: »Bis ich ungefähr achtzehn Monate alt war, schien ich völlig gesund und kräftig. Eines Nachts aber, so erzählte man mir, wollte ich nur sehr ungern zu Bett gebracht werden, und nachdem ich durchs Zimmer gejagt worden war, konnte man meiner habhaft werden und mich mit einiger Mühe in mein Schlafzimmer bringen. Das war das letzte Mal, dass ich eine derartige Beweglichkeit an den Tag legte. Am nächsten Morgen stellte man bei mir ein Fieber fest, wie es häufig mit dem Zähneziehen einhergeht. Ich hatte es drei Tage lang. Als man mich am vierten Tag wie üblich baden wollte, entdeckte man, dass ich im rechten Bein keine Kraft mehr verspürte.« Keine Kur schlug gegen Scotts Leiden an, er starb sechzig Jahre später, ohne sein rechtes Bein je wieder vollständig bewegen zu können.
    In England stellten Ende des 18. Jahrhunderts erstmals Ärzte eingehendere Untersuchungen der Lähmungserscheinungen an, von denen vor allem Kinder befallen wurden. In Deutschland wurde die Krankheit 1840 erstmals beschrieben, frühere Fälle sind von dort keine bekannt. Der Arzt Jakob von Heine aus Cannstatt, heute ein Stadtteil von Stuttgart, untersuchte vierzehn Fälle kindlicher Lähmungserscheinungen, denen fiebrige Zustände und große Schmerzen vorangingen. Er vermutete als Erster, dass bei der Erkrankung das zentrale Nervensystem und dabei insbesondere das Rückenmark betroffen waren. Als seine Beobachtungen 1860 in zweiter Auflage erschienen, gab er ihnen den Titel Spinale Kinderlähmung , was sich im Deutschen als geläufige Krankheitsbezeichnung einbürgerte. An Heines

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