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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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der frühen Projekte, wurde der Dawydow-Plan zunächst ebenso wenig umgesetzt wie andere Ansinnen seit den Dreißigerjahren. Bei unterschiedlicher Detailausführung ist ihnen gemeinsam, dass zunächst der Gewinn für die Schifffahrt und das Potenzial der Energieerzeugung mittels Wasserkraft im Vordergrund stehen. Später wurde eher die Bewässerung des trockenen Südens hervorgehoben, aber auch die Stabilisierung des Kaspischen Meeres, dessen Wasserspiegel seit 1930 im Sinken begriffen war.
    Letzteres kam nicht von ungefähr, denn der Ausbau der Agrarwirtschaft auf geeigneten Böden im Süden Sibiriens und Kasachstans erforderte immer mehr Bewässerungsmaßnahmen – nur eben ausgerechnet dort, wo Wasser ohnehin nicht unbegrenzt verfügbar war. Die Folge war, dass im Kaspischen Meer das Absinken des Wasserspiegels inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hatte. In Zentralasien wurde der Aralsee regelrecht stranguliert, weil immense Wassermengen seiner beiden einzigen Zuflüsse Amudarja und Syrdarja zur Bewässerung des Baumwollanbaus in Usbekistan und Kasachstan entnommen wurden. Seit den Siebzigerjahren kam es immer häufiger dazu, dass die Flussläufe schon versiegten, bevor sie den Aralsee erreichten, der daher immer kleiner wurde und mittlerweile in mehrere Teilseen auseinandergefallen ist. Heute liegt die einstige Hafenstadt Aral Dutzende Kilometer von der Küstenlinie entfernt.
    Schon aufgrund dieser beunruhigenden Entwicklungen geriet das ehrgeizige Vorhaben nicht mehr aus dem Blick. Die Agrarwirtschaft hatte größte Bedeutung für Wohl und Weh der Sowjetunion, und jeder Versuch, auf diesem Feld ein Stück in Richtung Autarkie voranzukommen, musste Gehör finden. Also setzte sich ein riesiger Apparat in Bewegung, der – dem Ideal nach nüchtern und streng wissenschaftlich – prüfen sollte, ob Kosten und Nutzen in einem vernünftigen Maß stehen würden und der Umfang des Projekts durch die Ergebnisse gerechtfertigt wäre. Zehntausende Menschen in knapp 200 Organisationen, zumeist einem interessierten Ministerium unterstellt, sollen seit Dawydows Initiative mit der Untersuchung dieser Fragen befasst gewesen sein, Pläne wurden erstellt, Forschungsprojekte vergeben, Konferenzen abgehalten, Bücher veröffentlicht – und viele Milliarden Rubel Staatsgelder aufgewendet. Das Ergebnis allerdings war ein Koloss, der schon aus Rechtfertigungsgründen an einer Realisierung interessiert sein musste.
    Aus Sicht der bestimmenden Technokraten und ihrer am grünen Tisch ausgeformten Logik musste das Problem geradezu zwingend angepackt werden: dem überversorgten Norden Wasser entziehen, um es dem Süden zukommen zu lassen. Als wollten sich die Projektplaner gegenseitig übertrumpfen, stiegen mit jedem neuen Vorschlag die Mengen des Wassers, das bewegt werden sollte. Und auch andere Maßstäbe wurden verändert: Aus heutiger Sicht gigantomanisch mutet der Vorschlag aus dem Jahr 1955 an, die gewaltigen Arbeiten zur Umgestaltung der Erdoberfläche mittels Atomexplosionen zu bewerkstelligen. Die Wucht des Atoms sollte helfen, Schnee zu schmelzen, Erde zu bewegen, Kanäle auszuheben – und im Wortsinn Berge zu versetzen. Tatsächlich wurden nukleare Explosionen damals vielerorts und selbst in dichtbesiedelten Regionen eingesetzt, um die Machbarkeit des Gesamtprojekts bei vergleichsweise geringen Kosten unter Beweis zu stellen. Andere Aspekte trugen dem gestiegenen Umweltbewusstsein Rechnung, etwa wenn von der Rettungstat die Rede war, um der hochgradig verschmutzten Wolga sowie den ebenfalls belasteten und zudem noch von sinkenden Wasserständen betroffenen Kaspischen Meer und Aralsee Frischwasser zur Verfügung zu stellen. Wenn das nicht als Augenwischerei gedacht war, so schien es doch, als wollte man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
    Die angestrebte Lösung bestand aus zwei Teilmaßnahmen: Auf der europäischen Seite des Riesenreiches, also westlich des Urals, sollten die Suchona und sowie der Latscha-, der Wosche- und der Kubenasee Wasser liefern, das über Kanäle in die Wolga geführt werden sollte. Später sollte Wasser aus dem Onegasee und der Petschora hinzukommen. Davon sollten neben der Wolga auch Wasserkraftwerke sowie Bewässerungssysteme in Südrussland und dem Kaukasus profitieren. Erheblich ambitionierter stellte sich der sibirische Teil des Megavorhabens dar: Wasser der mächtigen Ströme Irtysch und Ob sollte abgezweigt und nach Süden transportiert werden – der Irtysch hätte in der Folge mit

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