Grandios gescheitert
Umsiedlungsmaßnahmen im großen Stil und ihren sozialen Folgen ganz abgesehen.
Auch im Fall des sibirischen Flussprojekts zeigte sich der Schriftsteller Valentin Rasputin als der rührigste Opponent der Projektbefürworter. Der gebürtige Sibirier war einer der sogenannten Dorfschriftsteller, die in Opposition zum parteikonformen »sozialistischen Realismus« eine traditionellere Erzählweise und konservativere Werte vertraten, darunter die Achtung der Schöpfung und die Abkehr vom blinden Industrialismus. Rasputin wurde im Westen berühmt durch sein Buch Abschied von Matjora , das Anfang der Achtzigerjahre auch verfilmt wurde. Es beschreibt die Endzeit des Dorfes Matjora, gelegen auf einer Flussinsel, die im Zuge des Staudammbaus von Bratsk alsbald überflutet wird. Das traditionelle und naturnahe Leben einer Dorfgemeinschaft vermittelt sich als klarer Gegenpol zum anonymen Großstadtleben, das den sozialistischen Vorstellungen nach modern und erstrebenswert ist, und nibelungenhaft stemmt es sich den staatlichen Räumkommandos entgegen. Die Vertreter der Dorfliteratur ersetzten die martialische Sowjetliteratur der Naturbezwingung durch antisowjetisch und mitunter durchaus nationalistisch gefärbte Lobpreisungen der Natur und traditioneller Lebensweisen. Ganz ausdrücklich forderten sie, der Mensch müsse sich in seinen Bedürfnissen einschränken, wenn er seinen Lebensraum nicht zerstören und die Würde der Natur nicht unentwegt verletzen wolle. Angesichts längst unübersehbar gewordener Umweltschäden fiel diese Umwidmung des Verhältnisses Mensch-Natur bei den Bevölkerungen vieler sozialistischer Länder auf fruchtbaren Boden. Weder die kämpferisch-futuristischen Visionen revolutionärer Autoren noch die Utopien der lichten Zukunft sozialistischer Industrialisierung ihrer staatstreuen Kollegen hatten ihre Versprechen einlösen können, da war der Rückgriff aufs Traditionelle naheliegend.
Als die Kritik nicht verstummen wollte, sich vielmehr immer lautstärker erhob, versuchten Projektplaner und Behörden gegenzusteuern. Bis 1985 wurden Versuche unternommen, die Bedenken ernst zu nehmen und das Projekt zu modifizieren, aber natürlich nicht aufzugeben. Gleichzeitig sollte der Widerstand nicht allzu sehr bekannt werden, was sich durch die Zensur zumindest im nationalen Rahmen steuern ließ. Nach dem Durchführungsbeschluss 1976 waren die Vorbereitungen weitergegangen und hatten erste Vorarbeiten begonnen, doch mit der Machtübernahme Michail Gorbatschows im Politbüro im Frühjahr 1985 kam die Wende. Bei mehr Transparenz und zunehmender öffentlicher Beteiligung an Staatsangelegenheiten – wie sie der neue Generalsekretär mit seiner Politik von Perestroika und Glasnost förderte – hatte der Plan zur Umkehrung der sibirischen Flüsse keine Chance mehr. Nunmehr ergingen Attacken gegen das Projekt von allen Seiten; zwei Schriftstellerkongresse im Dezember 1985 – der sogenannte Ökologiekongress – und im Juni 1986 bildeten ihre Höhepunkte. Jetzt verfügte Parteichef Gorbatschow 1986 den Stopp des Projekts. Zwar ist bis heute nicht klar, ob für diese Entscheidung die enormen Kosten oder der wachsende öffentliche Druck verantwortlich waren, man darf aber vermuten, dass beides eine gewichtige Rolle spielte. Am 20. August 1986 verkündete die Parteizeitung Prawda das Ende des ehrgeizigen Vorhabens.
Recherchen der Neunzigerjahre legten auf erschütternde Weise bloß, wie in sich korrupt das Behörden- und Institutskonglomerat gewesen war, das für das »Jahrhundertprojekt« verantwortlich zeichnete. Mit komplizierten Abhängigkeiten, Loyalitäten und allerlei Winkelzügen hatte ein Amt dem anderen Unterstützung und Rechtfertigung geboten, um gemeinsam den Kurs halten zu können. Denn alle Beteiligten saßen in einem Boot und konnten nur verlieren, wenn irgendwo eine Angriffsfläche geboten wurde und das Vorhaben unter Rechtfertigungsdruck geriet. Nur in sich stabil, war das Konstrukt bei einigem Druck von außen, wie es ihn jahrzehntelang in der Sowjetunion nicht hatte geben dürfen, in sich zusammengefallen, als wäre es ein windschiefes Kartenhaus.
Wie ein Schluck gegen die Grausamkeit
DIE AUSROTTUNG DER KINDERLÄHMUNG
In seinem 2010 erschienenen Roman Nemesis führt der US-amerikanische Autor Philip Roth seine Leser zurück in das Jahr 1944. In einem überaus heißen Sommer in Newark, New Jersey, ist mit einem Mal nicht mehr der Zweite Weltkrieg das beherrschende Gesprächsthema, sondern eine
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