Grandios gescheitert
Forschungen anknüpfend, dokumentierte der schwedische Kinderarzt Karl Oskar Medin wenige Jahrzehnte später den epidemischen Charakter der Kinderlähmung. Nach diesen beiden Pionieren der Polioforschung wird die Krankheit auch Heine-Medin-Krankheit genannt. Die Bezeichnung Poliomyelitis geht auf den französischen Neurologen Jean-Martin Charcot zurück.
Bis ca. 1880 war die Krankheit überwiegend endemisch, kam also nur vereinzelt und begrenzt vor, und trat nur gelegentlich epidemisch auf. Die ersten wahrscheinlichen Fälle eines epidemischen Auftretens der Kinderlähmung wurden in Schweden, Norwegen, England und den Südstaaten der USA beobachtet sowie in Brasilien und auf der kleinen Insel St. Helena im südlichen Atlantik, die zu Großbritannien gehört. Seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts jedoch zeigte sich ein verstärktes Auftreten der Krankheit in Europa; den Höhepunkt bildete im Jahr 1887 eine Epidemie in Stockholm. Jetzt trat die Kinderlähmung dauerhaft epidemisch und in weiter wachsendem Ausmaß auf – und sie verbreitete sich über ganz Europa und Nordamerika, später nach Australien und über den Rest der Welt.
Als erste größere Epidemien gelten die Ausbrüche von Poliomyelitis in Schweden und Norwegen 1905. In beiden Ländern waren in den Jahren zuvor wenige Dutzend Fälle vorgekommen, und das war auch im ersten Halbjahr 1905 so gewesen. Ab Juli aber nahmen in Schweden die Erkrankungsfälle rapide zu, bis das ganze Land betroffen war. Insgesamt über 1.000 (gesicherte) Fälle zählte man, der Schwerpunkt lag im Süden des Landes. So viele Menschen hatten sich bislang noch nirgendwo mit der Kinderlähmung angesteckt. In einer wegweisenden epidemiologischen Studie der Epidemie von 1905 kam der schwedische Kinderarzt Ivar Wickman zu dem Schluss, dass sich die Krankheit entlang der Straßenverbindungen und Eisenbahnverbindungen des Landes ausgebreitet hatte – reger Verkehr hatte die Epidemie begünstigt, eine ebenfalls wichtige Rolle als Multiplikator spielten die Schulen. Damit lag auf der Hand, dass die Übertragung von Mensch zu Mensch eine wichtige Rolle spielte, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch unklar war, wie genau die Ansteckungswege verliefen. Aufgrund seiner Erkenntnisse wurde die Kinderlähmung jetzt als Infektionskrankheit allgemein anerkannt. Daneben stellte Wickman das Problem heraus, dass die Isolation von Erkrankten allein die Eindämmung der Epidemie nicht gewährleisten könne, da offensichtlich auch vermeintlich Gesunde die Krankheit übertrugen.
Warum sich die Seuche ausgerechnet in dieser Zeit so ausbreitete, lässt sich mit den verbesserten Hygienestandards erklären: Weil die Menschen ab ihrer Geburt weniger Keimen ausgesetzt waren, sank ihre Widerstandsfähigkeit. Polioerreger werden über die Ausscheidungswege freigesetzt, und je weniger die Kleinkinder der westlichen Industrieländer in Berührung mit Fäkalienkeimen kamen, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch diesen »Feindkontakt« schon frühzeitig immunisiert wurden. Umgekehrt begünstigt in einem insgesamt hygienischen Umfeld mangelnde Sauberkeit wiederum die Verbreitung der Viren.
Nach den ersten Epidemien in Skandinavien erfolgten nach und nach überall auf dem europäischen Kontinent sowie in England größere Ausbrüche der Kinderlähmung, seit den frühen 1880er-Jahren aber auch in Nordamerika. Besonders schlimm traf es die USA in den Jahren 1907 und 1916, und dabei besonders die Staaten im Nordosten sowie vor allem New York. Dort kam es seit Mai 1907 zu einer Häufung von Poliomyelitis-Fällen, die im September ihren höchsten Stand erreichte. Im ganzen Jahr wurde mit rund 800 gesicherten Fällen die bisher höchste Zahl von Kinderlähmungsfällen in den Vereinigten Staaten dokumentiert. Neun Jahre später schließlich erlebte New York City, ausgehend von Brooklyn, eine der größten und schlimmsten Polioepidemien, die je weltweit registriert wurden: Rund 23.000 Fälle wurden 1916 in der Metropole und den umliegenden Gemeinden benachbarter Bundesstaaten gezählt, und nunmehr war klar, dass größere Anstrengungen unternommen werden mussten, um der Gefahr Herr zu werden. Die Bevölkerung der Großstädte hatte berechtigterweise Angst, und vor allem Eltern machten sich um ihre Kinder große Sorgen.
Die Zeit ab 1921 gilt als die Phase der globalen Verbreitung der Poliomyelitis, die erst mit der Entwicklung eines Impfstoffes 1954 zu Ende geht. Während die Krankheit
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