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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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Staaten zur Verfügung zu stellen. Alle Staaten wurden verpflichtet, in ihrem Land Fälle von Poliomyelitis akribisch zu dokumentieren und die Betreuung von Patienten mit bleibenden oder Spätfolgen zu gewährleisten.
    Insgesamt wurden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bislang 8 Milliarden US-Dollar dafür aufgewendet, die Kinderlähmung vom Antlitz der Erde zu tilgen. Welch bewundernswerte Kraftanstrengung aber auch jenseits der enormen monetären Kosten dahintersteckt, wird seltener gewürdigt: Ein weltweites Überwachungs- und Labornetz war aufzubauen – auch in unzugänglichen und wenig entwickelten Gegenden. Millionen von Mitarbeitern, darunter rund 20 Millionen Freiwillige, mussten bis in die letzten bewohnten Winkel der Erde vorstoßen, um eine möglichst hohe Impfrate zu erzielen: Über Jahre hinweg sollte nahezu jedes Kind mehrmals geimpft werden.
    Seit Beginn des Polio-Eradikationsprogramms wurden 2,5 Milliarden Kinder wiederholt geimpft, um sie vor der Kinderlähmung zu bewahren. 200 Staaten beteiligten sich an dem Programm und stellten ihre medizinische und logistische Infrastruktur zur Verfügung; die WHO in Genf koordinierte und dokumentierte das Projekt. Bei einem Vorhaben von derartiger Dimension sind Rückschläge vorprogrammiert, aber als das Programm 1988 aufgelegt wurde, stand zu erwarten, dass ein Dutzend Jahre später die Kinderlähmung Geschichte sein würde.
    Auf vier Ebenen wurde die Polioausrottung angegangen: Mindestens neun von zehn Kindern sollten im ersten Lebensjahr viermal geimpft werden. Um eine bessere Breitenwirkung beim Impfen zu erzielen, plante man die Ausrufung nationaler Impftage, bei denen unabhängig vom Immunstatus Kinder unter fünf Jahren geimpft werden sollten. Damit wollte man vor allem Gegenden erreichen, in denen Routineimpfungen selten sind. Die Staaten wurden verpflichtet, alle Fälle von Lähmungserscheinungen bei Kindern unter 15 Jahren genau zu dokumentieren und die Patienten auf Polioviren untersuchen zu lassen. Und schließlich sollten nachgreifende Impfaktionen in solchen Ländern oder Regionen durchgeführt werden, die als letzte Reservoire der Polioviren angesehen werden. Dabei sollten in den betreffenden Regionen alle Kinder unter fünf Jahren innerhalb eines Monats zweimal geimpft werden. Zur weitestgehenden Optimierung dieser Maßnahme war geplant, dass die Impfteams nacheinander und ohne Ausnahme von Haus zu Haus gehen.
    Durch das globale Programm gegen die Kinderlähmung lagen alsbald weltweit Zahlen vor, die die Fortschritte bei der Auslöschung der Krankheit dokumentieren. In den Jahren 1988 bis 1991 nahm die Zahl der Poliofälle auf weniger als die Hälfte rasch ab. 1988 kamen in Nordamerika, dem süd­lichen Teil Südamerikas, in Teilen Europas sowie in Australien keine Poliofälle mehr vor, während der Rest der Welt weiterhin als endemisch eingestuft wurde. Drei Jahre später konnte Polio bereits für den amerikanischen Doppelkontinent mit Ausnahme einiger Länder im Nordwesten Südamerikas als gebannt gelten, ebenso in Marokko sowie ganz Europa mit Ausnahme mehrerer Balkanländer. 1994 bestätigte die WHO Nord- und Südamerika als völlig poliofrei, Fortschritte bei der Eindämmung gab es in einigen Ländern im Norden und Süden Afrikas, Südostasiens sowie in der Mongolei. 1997 schließlich war die Kinderlähmung nur noch im Großteil Zentralafrikas, in den meisten arabischen Staaten, der Türkei, Indien, Pakistan sowie Thailand, Kambodscha und Laos endemisch.
    Aber nicht alles lief reibungslos ab, und nicht alle Entwicklungen weltweit konnten im Voraus berücksichtigt werden. Als größtes Hindernis für die Durchsetzung des ambitionierten WHO-Programms erwiesen sich Kriege, insbesondere in Mittelamerika, Südasien und Afrika südlich der Sahara. Zusammen mit anderen Infektionskrankheiten brachen dann häufig auch Poliomyelitis-Epidemien aus. Das war beispielsweise während des Tschetschenien-Krieges in den Neunzigerjahren der Fall, aber ebenso in Tadschikistan, Afghanistan und Irak sowie in den afrikanischen Staaten Kongo, Liberia, Sierra Leone, Somalia und Sudan. Flüchtlingsströme infolge kriegerischer Auseinandersetzungen machten die Impfbemühungen des Polio-Programms schwierig, manchmal unmöglich. In Angola beispielsweise kam es 1999, also zehn Jahre nach Beginn der WHO-Kampagne, in der Provinz Luanda zu einer der größten Epidemien, die je in Afrika beobachtet wurden. Grund dafür war der angolanische Bürgerkrieg, der rund

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