Grandios gescheitert
bestand aus abgetöteten Viren, die durch die Behandlung mit Formaldehyd ihre Fortpflanzungsfähigkeit verloren hatten. Die Herstellung gelang erstmals dem US-Immunologen Jonas Salk und seinen Mitarbeitern in Pittsburgh. 1955 wurde ihr Impfstoff in den USA in Windeseile zugelassen und ebenso schnell ein nationales Impfprogramm aufgelegt. In weniger als einem Monat stellten fünf Pharmafirmen rund vier Millionen Impfdosen her. Salks Impfstoff rettete zahllose Kinder vor der Ansteckung – aber er steht auch für den bis dahin größten Arzneimittelskandal der Vereinigten Staaten: Weil – verständlicherweise angesichts der verheerenden Auswirkungen der Poliomyelitis-Epidemien – die Zulassung des Impfserums übereilt erteilt worden war und aufgrund von Fahrlässigkeit bei der Herstellung, kamen Polioimpfstoffe auf den Markt, die nicht nur abgetötete, sondern auch Lebendviren enthielten, sodass durch die vermeintlich segensreiche Maßnahme Hunderttausende Kinder vor allem im Westen der USA erkrankten und Dutzende starben. Das Impfprogramm wurde im Mai 1955 vorübergehend gestoppt. Der dramatische Zwischenfall hinderte Salk, der dafür ja auch nicht verantwortlich gemacht werden konnte, nicht daran, sich in den USA als Held feiern zu lassen – und die zahllosen Beiträge und Vorarbeiten seiner Kollegen, die ihm seine Errungenschaft mit ermöglicht hatten, eitlerweise unerwähnt zu lassen.
In Deutschland trat die letzte Polioepidemie 1961 auf – in der Bundesrepublik, denn die DDR hatte bereits ein Jahr zuvor die Schluckimpfung eingeführt, weswegen dort nur vier Fälle registriert wurden. Westlich der innerdeutschen Grenze aber erkrankten 1961 fast 4.600 Menschen an Poliomyelitis, über 300 von ihnen starben. Zwar war die Spritzimpfung nach Salk auch in der Bundesrepublik verfügbar, wurde aber von der Ärzteschaft nicht mit ausreichender Vehemenz propagiert. 1962 setzte sich auch in der Bundesrepublik die Schluckimpfung durch. Parallel zu den Arbeiten des Teams um Jonas Salk war nämlich ein weiterer Impfstoff entwickelt worden, der aus einem Lebendimpfstoff besteht: abgeschwächte Erreger, die keine Erkrankung mehr auslösen können, den Körper aber zur Bildung von Antikörpern animieren. Die Arbeit an dem neuen Serum leitete Albert Sabin von der Universität von Cincinnati. Vor allem die Schluckimpfung verbindet sich im öffentlichen Gedächtnis bis heute mit dem Kampf gegen die Kinderlähmung. Dabei wird Kindern das Impfserum mit einem Stück Zucker oder einer anderen Süßigkeit oral verabreicht. In Deutschland haben ganze Generationen noch einen Slogan im Kopf, mit dem für die Poliovorsorge geworben wurde: »Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam«. Diese Form der Impfung wird aber auch zur Immunisierung gegen andere Krankheiten angewendet.
Voreilige Euphorie
Diese und andere Fortschritte bei der Entwicklung von Impfstoffen und der Eindämmung epidemischer und anderer Infektionskrankheiten vor allem in den westlichen Industrienationen erzeugten eine ungeheure Euphorie. In einigen Zitaten von Fachleuten, wie sie damals unisono vernehmbar waren, spiegelt sie sich wider: 1962 meinte der australische Virologe und Medizin-Nobelpreisträger Frank Macfarlane Burnet: »Die Beherrschung der Infektionskrankheiten stellt den überhaupt größten Sieg dar, den der Mensch je über seine Umwelt zu seinem eigenen Nutzen errungen hat. Dieser Erfolg ist (…) ein prinzipiell vollständiger.« Ein paar Jahre später erklärte der Epidemiologe und Surgeon General of the United States, also höchster Gesundheitsbeamter der Vereinigten Staaten, William H. Stewart: »Es ist an der Zeit, das Problem der Infektionskrankheiten endgültig aus der Welt zu schaffen und den Krieg gegen Seuchen für gewonnen zu erklären.« Der britische Virologe John Cairns schließlich schrieb: »Die westliche Welt hat den Tod aufgrund von Infektionskrankheiten so gut wie besiegt.«
Angesichts von HIV/AIDS, SARS und anderen bedrohlichen Infektionen, die sich in einer globalisierten Welt im Nu verbreiten können, wissen wir, dass diese Erwartungen allzu hoffnungsfroh waren. Gleichzeitig aber profitieren wir bis heute von dieser Euphorie, denn sie setzte weltweit einen erheblichen Tatendrang frei.
Das Cairns-Zitat stammt aus dem Jahr 1978. Im Jahr darauf erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pocken für ausgerottet – sie waren über Jahrhunderte für erhebliche Schwankungen in den Bevölkerungszahlen im
Weitere Kostenlose Bücher