Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
Vom Netzwerk:
Chr. nun eher positiv oder eher negativ betrachtet, ihre Leuchttürme sind die gotischen Kathedralen, einige davon weltweit bewundert. Wenn heute Architekten ihre größte Herausforderung in himmelstürmenden Wolkenkratzern sehen, wenn im 19. Jahrhundert Industriebauten und Bahnhöfe ihre Paradeaufträge darstellten – im Mittelalter waren es die großen Kathedralen. Die ehemalige Abteikirche Saint-Denis bei Paris oder die Kathedralen Notre-Dame in Paris und Amiens, in Chartres und Reims sind, stellvertretend für viele, nur einige der Bauten aus Frankreich, wo der Architekturstil seinen Anfang nahm. Oft wird als Geburtstag der Stilepoche der 14. Juli 1140 genannt, als im Benediktinerkloster Saint-Denis, das als Grablege und Hauskloster der französischen Könige zu enormem Reichtum und Prestige gelangt war, die Arbeiten an einem neuen Chorbau für die romanische Abteikirche begannen. Das geschah auf Betreiben des Abtes Suger, der nicht nur Wegweisendes begann, sondern die Kunde davon auch emsig verbreitete – und sich selbst in einem Fenster des neuen Chores verewigen ließ.
    Abt Suger handelte gleichzeitig auf ideeller und realer Grundlage. Real war die Konsolidierung des französischen Königtums, das kurz zuvor noch Mühe gehabt hatte, sich bei einem eher kleinen unmittelbaren Herrschaftsgebiet (der Île-de-France rund um Paris, die Krondomäne) von den umliegenden Fürsten abzusetzen, über deren Territorien es eine Oberherrschaft beanspruchte. Ob der englische König mit seinen Besitzungen auf dem europäischen Festland, ob die Grafen von Flandern oder der Champagne oder die Herzöge von Anjou, der König hatte mächtige Widersacher und kontrollierte keineswegs all das, was wir heute unter Frankreich verstehen. Seit dem 12. Jahrhundert aber konnten die Könige ihre Machtposition Stück für Stück ausbauen. Ideelle Grundlage des königlichen Universalanspruchs auf ganz Frankreich aber war das Kloster Saint-Denis: Hier lag mit dem Märtyrer Dionysius von Paris der Missionar Frankreichs begraben, außerdem der Vater Karls des Großen. Auf den ersten Kaiser des Mittelalters gründeten die französischen Könige ihren umfassenden Machtanspruch. Je besser sich der umsetzen ließ, desto großzügiger versorgten die Könige ihr Hauskloster mit Zuwendungen und desto aufwendiger konnte Abt Suger bauen.
    Betrachtet man im direkten Vergleich, quasi nebeneinander, eine romanische und eine gotische Kirche, so kann man noch heute ohne großes Wissen in Architektur- und Kunstgeschichte mühelos nachvollziehen, welcher Baustil der modernere ist. Romanische Kirchen wirken viel archaischer, gotische Kathedralen dagegen unübersehbar ehrgeizig zum Himmel strebend und architektonisch ausgeklügelt. Zunächst beschritt die gotische Baukunst neue Wege in einer Weise, die Alt und Neu kombinierte, nicht zuletzt im Hinblick auf die im Mittelalter so wichtige Wertschätzung des Alten, das nunmehr mit moderner Herrlichkeit ergänzt wurde. Sugers Kirchenumbau von Saint-Denis verhalf der Gotik zum Durchbruch, und immer öfter wurden Kirchen im neuen Stil umgestaltet oder völlig neu errichtet. Die bekanntesten Stilmerkmale der Gotik sind Rippengewölbe und Strebewerk, Spitzbogen und Maßwerk, die zwar nicht neu erfunden wurden, aber in ihrer Kombination zu charakteristischen Erkennungszeichen der Stilepoche wurden.
    Bald waren es nicht mehr nur die Klöster, sondern stärker noch die Städte, die sich mit neuen Kirchen schmückten. Die Städte blühten zu jener Zeit auf, entwickelten großes Selbstbewusstsein, und ihre Bischöfe und Bürger nahmen viel Geld in die Hand, um zu bauen. Mit Größe und Reichtum wuchs auch ihr Stolz, und das Erreichte wollte man nach außen darstellen. Eitelkeit galt damals mehr als heute als verwerflich, weil sündhaft – aber wer mochte schon Einwände dagegen erheben, dem Herrn eine prachtvolle Kirche zu bauen? Und der daraus erwachsende, nicht minder unchristliche Neid anderer Städte war aus christlicher Sicht durchaus zu verschmerzen, wenn die Neider dann selbst prächtige Kirchen errichteten. Schließlich schwand damit der Grund für den Neid, und gleichzeitig wurde Gott mit jedem neuen Kirchenbau nur noch mehr gepriesen, und das war beides ganz im Sinne des Glaubens. Zwei Fliegen mit einer großen Klappe also.
    Je mehr gotische Kathedralen sich imposant aus dem Häusermeer erhoben, desto größer wurde der Druck auf solche Städte, die dergleichen noch nicht vorzuweisen hatten. Wie davor und danach

Weitere Kostenlose Bücher