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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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bestand immer Konkurrenz zwischen Städten, sodass Fachleute für den Kirchenbau immer wieder neue Aufträge bekommen konnten, wenn sie durch die Lande zogen. In Frankreich wurden in den drei Jahrhunderten nach Sugers Umbau von Saint-Denis an die einhundert Kathedralen errichtet, dazu ein halbes Tausend anderer großer Kirchen. Nur: Wenn jede Prachtkirche von der folgenden überboten werden sollte, wenn dem höchsten Turm ein noch höherer, dem prächtigsten Fensterschmuck ein noch prächtigerer, dem längsten Kirchenschiff ein noch längeres und dem höchsten Kirchendach ein noch höheres folgen sollte, dann wurde dieses frömmelnde Potenzgehabe immer ehrgeiziger, teurer und bautechnisch komplexer.
    Die heute beschauliche Provinzstadt Beauvais in der Picardie, 90 Kilometer nördlich von Paris auf dem Weg nach Amiens gelegen, zählte damals zu den reichsten Städten Frankreichs, bedingt durch den Aufschwung seines Tuchgewerbes im 11. Jahrhundert, der die Stadt erblühen ließ. Als Sitz des gleichnamigen Bistums besaß Beauvais daneben große religiöse und politische Bedeutung. Zudem profitierte man vom Machtausbau der Krone im französischen Norden, seit die Normandie den Engländern wieder entrissen worden war und der Sieg über das englisch-kaiserliche Heer 1214 bei Bouvines den französischen König enorm gestärkt hatte.
    Die ruhigeren, sichereren Zeiten kamen Stadt und Bistum wirtschaftlich zugute; für ihre Autonomie aber bedeutete der königliche Machtzuwachs eine Bedrohung, denn die Zentralisierungsbestrebungen der Krone kollidierten mit dem Unabhängigkeitsdrang von Beauvais. Die Bischöfe von Beauvais waren gleichzeitig Stadtherren und Grafen, also Fürstbischöfe, seit Anfang des 13. Jahrhunderts vom exklusiven Rang eines Pair de France. Die Gruppe der Pairs bestand aus zwölf Fürsten, sechs davon Bischöfe, die direkte Lehnsmänner des Königs waren. Auf ihre Autonomie legten Bistum und Stadt allergrößten Wert, auf die eigenen Maßeinheiten und vor allem die eigene Münzprägung sowie die Unabhängigkeit in der Rechtsprechung war man ungeheuer stolz. Da schien eine neue Kathedrale als geeignete Maßnahme, als weithin sichtbares Zeichen dafür zu dienen, dass die Bischöfe der könig­lichen Machtausdehnung nicht tatenlos zusehen, sondern ihre Eigenständigkeit bewahren wollten. Zumal die benachbarten Bischofsstädte längst mit gotischen Kathedralen punkten konnten. Ein Neubau unterstrich aber keineswegs nur den Anspruch kirchlicher Unabhängigkeit gegenüber der Krone, sondern ebenso die weltliche Macht des Bischofs in seinen Landen. Immerhin konnten die Bischöfe durch den wirtschaftlichen Aufschwung mehr Mittel auf den Kirchenbau verwenden, zumal in friedlicheren Zeiten die Aufwendungen für Verteidigungszwecke erheblich geringer ausfielen. Nur war der Kirchenbau nicht in wenigen Jahren zu bewerkstelligen, sondern ein Projekt für viele Jahrzehnte und damit anfällig für sich ändernde Verhältnisse.
    Wer heute Beauvais besucht, kann die frühere Stellung der Bischofsstadt kaum nachvollziehen, denn im Zweiten Weltkrieg ließ das Bombardement der deutschen Luftwaffe nicht viel von der alten Herrlichkeit übrig. Die Kleinstadt in der Picardie wurde nach dem Krieg weitgehend neu aufgebaut. Dass jedoch die gotische Kathedrale als Rumpfkoloss existiert, hat nichts mit dem Krieg zu tun, sondern mit dem Ehrgeiz der Stadt und ihrer Bischöfe, dem die politischen Entwicklungen entgegenstanden. Der Niedergang der Stadt begann schon im Mittelalter, und zwar ungefähr zu jener Zeit, als der Neubau der Kathedrale in Angriff genommen wurde. Und weil sich der Niedergang städtischer Souveränität und bischöf­licher Herrlichkeit ebenso schleichend vollzog, wie der Bau der neuen Kathedrale sich in die Länge zog, weil beides in enger Wechselwirkung zueinander stand, lässt sich das Bauprojekt und sein Misslingen als Ausdruck und Symbol dieses Niedergangs begreifen, als Abgesang auf die schwindende Unabhängigkeit von Beauvais.
    Nähert man sich der Kathedrale Saint-Pierre von Osten, ist man tief beeindruckt von der schieren Größe und dem Gewirr der äußeren Strebepfeiler, die wie eng aufgesetzte Spinnenbeine den Chor umstehen. Beim Weitergehen entlang der Südseite der Kirche aber weicht der erste Eindruck einer gewissen Verwirrung, weil dem Chor zwar ein nicht minder beeindruckendes Querhaus folgt, dann aber plötzlich Schluss ist. Weil das Langhaus fehlt, ist die Kirche nur halb so groß wie geplant und

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