Grandios gescheitert
Broschüre war in Russisch erschienen, aber rasch folgten Ausgaben in Polnisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch und Jiddisch. Bereits zwei Jahre nach der ersten Veröffentlichung konnte Zamenhof voller Stolz ein erstes Anschriftenverzeichnis der Esperanto-Sprecher herausgeben – es enthielt ansehnliche 1.000 Einträge, die Mehrheit aus dem Zarenreich. Ein früher prominenter Fürsprecher der neuen Sprache war der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, auch wenn er sie nie erlernte. Er verhalf der Esperanto-Bewegung einerseits zu weltweitem Augenmerk, andererseits aber zu misstrauischer Behinderung durch die zaristischen Behörden. Eine eigene Zeitschrift durfte Zamenhof in seiner Heimat nicht publizieren, obwohl im Russischen Reich die Mehrzahl der frühen Esperantisten lebte. In die Bresche sprang der vormalige Volapük-Club in Nürnberg, der seit 1889 die erste Monatsschrift der Sprachbewegung herausgab: La Esperantisto . Allerdings waren die Beziehungen nach Nürnberg keineswegs spannungsfrei. Und als ein der Zensur unliebsamer Beitrag Tolstois erschien, belegten die russischen Zensurbehörden die Zeitschrift kurzerhand mit einem Einfuhrverbot.
Ins romanischsprachige Europa fand Esperanto seinen Weg durch den Enthusiasmus eines Franzosen, des Privatlehrers Louis Chevreaux, der sich als »Marquis Louis de Beaufront« neben dem klangvollen Namen auch eine recht schillernde Biographie gebastelt hatte. Als einer der ersten Esperantisten Frankreichs sowie gewiefter Organisator und PR-Mann rührte er gekonnt die Werbetrommel für Zamenhofs Sprachenschöpfung, insbesondere unter der französischen Intelligenzija . Bereits 1905 fand im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer der erste Esperanto-Weltkongress statt, auf dem die Sprache ihren Zweck erstmals unter Beweis stellen konnte. Fast 700 Delegierte aus vielen Ländern kamen zusammen und verstanden sich, wenn auch noch nicht immer mühelos: dank Zamenhofs Esperanto. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges bestanden Esperantoverbände in fast allen Ländern Europas sowie in Japan und den Vereinigten Staaten. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges nahm Zamenhof an allen Weltkongressen teil; er reiste dafür sogar bis nach Washington. Während des Krieges veröffentlichte er noch ein Memorandum für die Zeit nach Friedensschluss, ein Plädoyer für die Vereinigten Staaten Europas inbegriffen. Das Ende des Krieges erlebte er allerdings nicht mehr, er starb im Frühling 1917 mit nur 56 Jahren in Warschau an einem Herzinfarkt.
Sein Ziel war es, Esperanto zum Katalysator einer besseren Welt zu machen, in der eine gemeinsame Sprache alle anderen Unterschiede überbrückt und Konflikten den Boden entzieht. Ausdrücklich wollte Zamenhof eine internationale Sprache, wie er sie auch zunächst nannte ( lingvo internacia ), und keine Weltsprache ( lingvo tutmonda ), die alle Nationalsprachen ersetzt. Es ging ihm also keineswegs um eine linguistische Weltrevolution, wie noch heute gern behauptet wird. Auch wollte er keine statische, »perfekte« Sprache, sondern eine lebendige und praktikable. Zamenhofs »Sprachführer« von 1887 bestand denn auch ganz bewusst aus einer Minimalgrammatik.
Begeisterung und Verunglimpfung
Im Unterschied zu anderen Plansprachen ging die Geschichte des Esperanto auch nach dem Tod seines Schöpfers weiter. Offenbar bestärkte das Erlebnis des Krieges in ganz Europa die Esperantisten, die Idee der Völkerverständigung durch Sprache nun erst recht weiterzubetreiben. Nun sind Sprachen zwar an sich unpolitisch, besitzen aber in der kulturellen und geographischen Bindung ihrer Sprecher ein politisches Potenzial, das häufig verwertet und nicht selten missbraucht wird. Unliebsame Minderheiten werden auf der ganzen Welt immer wieder in ihrer Identität bedroht, indem man ihre Sprachen benachteiligt oder ganz unterdrückt – von den im Deutschen Reich lebenden Polen und den unter russischer Herrschaft stehenden Litauern im 19. Jahrhundert über, bis vor nicht allzu langer Zeit, die Maya in Guatemala und Mexiko und die Kosovo-Albaner im Serbien unter Miloševic’ bis zu den Tibetern Chinas oder den Sorben in Deutschland noch heute. Man könnte meinen, eine internationale Plansprache wie das Esperanto sei gegen solche nationalistischen oder kulturchauvinistischen Repressionen gefeit, tatsächlich war aber das Gegenteil der Fall.
Im zum Zarenreich gehörenden Polen begann die Diskriminierung der Sprachenschöpfung Zamenhofs, weil sie von den Behörden als
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