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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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potenziell gefährlich und suspekt eingestuft wurde. Zumal seit der Ermordung von Zar Alexander II. durch Anarchisten 1881 schrumpfte der ohnehin nicht allzu große Spielraum für Intellektuelle unter russischer Herrschaft, vor allem für die Juden unter ihnen. Der Umstand, dass die neue Sprache von einem Juden ins Leben gerufen worden war, machte es da nicht leichter. Auch als 1904 die Zensur gelockert wurde, verbesserte sich die Situation für die Esperantisten in nur geringem Maße. Weiterhin galten sie als Separatisten und ihre Sprache als gefährliches Vehikel für unliebsame ausländische Ideen.
    Auf derart kargem Boden konnte auch die neue Sprache trotz anfänglicher Begeisterung nicht recht gedeihen, dafür umso mehr in Westeuropa. Um in keine so oder so geartete Ecke gestellt zu werden, verlegten sich die eifrigen französischen Propagandisten für die Sache Esperanto darauf, den rein praktischen Nutzen einer internationalen Sprache zu betonen: für Wirtschaft und Wissenschaft, Verkehr und Tourismus – eben für alles, was (sprach-)grenzüberschreitender Verständigung bedarf. Das entsprach zwar nicht dem idealistischen Geist Zamenhofs, der ja eine Mission verfolgte, wohl aber war diese Verkürzung dem Image der Sprache zuträglich. In Deutschland hingegen war schon der Start ausgesprochen mühsam gewesen, und die erste deutsche Esperanto-Gesellschaft wurde, reichlich verspätet, erst 1906 gegründet. Die neue Sprache erfuhr in Deutschland mehr Gegenwind als in anderen westeuropäischen Ländern. Nicht allein, aber besonders in Deutschland war Internationalismus suspekt, weil er als »anti-national« galt und die Nation als Maß aller Dinge. Die postulierte Neutralität der neuen Sprache konnte nur dann positiv ausstrahlen, wenn Neutralität geschätzt wurde, aber das war im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg ganz überwiegend nicht der Fall. Und bereits jetzt war voller Abscheu von der »jüdischen Weltsprache« die Rede.
    Noch vor dem Weltkrieg begann auch im restlichen Europa die Politik in die neue Sprachenwelt hineinzuschwappen, als sich innerhalb der Esperanto-Bewegung politische Gruppen formierten. Dass aber in dieser Zeit des aggressiver werdenden Nationalismus die Zahl der Mitglieder im Esperanto-Weltverband rasch wuchs, ist eher ein Ausdruck der Abscheu eben vor den chauvinistischen Strömungen. Doch der grassierende Nationalismus, eine der Ursachen für den Ersten Weltkrieg, machte auch der internacia lingvo das Leben schwer.
    Nach dem Ersten Weltkrieg schien die internationale Sprache im neu gegründeten Völkerbund einen natürlichen Partner zu haben. Und in der Tat lag schon der ersten Vollversammlung des Völkerbundes in Genf ein Entschließungsantrag zugunsten des Esperanto vor: »… damit die Kinder in allen Ländern von nun an wenigstens zwei Sprachen kennenlernen, ihre Muttersprache und ein leichtes Mittel zur internationalen Verständigung«, hieß es darin. Aus der Einführung des Esperanto als Schulsprache wurde zwar nichts, aber wenigstens ideell unterstützte die Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen Zamenhofs Plansprache.
    Rangkämpfe und Eifersüchteleien großer und kleiner Länder, zwischen Fürsprechern verbreiteter und weniger verbreiteter Sprachen prägten und behinderten jedoch die Arbeit des Völkerbundes. Vor allem Frankreich, das seine Sprache einem erheblichen Konkurrenzdruck durch das Englische ausgesetzt sah, opponierte in einer Art stolzem Kulturnationalismus der Frankophonie gegen Bemühungen für die Verbreitung von Esperanto und erhielt dabei die Unterstützung Brasiliens. Insofern erfuhr Esperanto im Kleinen, was dem Völkerbund insgesamt schließlich den Garaus machte: blinden Egoismus der Mitgliedsstaaten. Man darf vermuten, dass Esperanto als weltweite lingua franca einen enormen Aufschwung genommen hätte, wenn im Völkerbund darüber ein Konsens erreicht worden wäre. Gleichzeitig hätte die Sprache die Sache des Völkerbundes, der ja in Reaktion auf den verheerenden Ersten Weltkrieg gegründet worden war, begleiten und nicht unwesentlich unterstützen können. Doch die natürlichen Verbündeten konnten ihr Potenzial nicht bündeln, der Völkerbund erwies sich in jeder Hinsicht als zahnloser Tiger.
    Der nunmehr folgende Wettstreit der Ideologien und Machtblöcke sollte die Lage nicht besser machen. Und auch die Esperanto-Bewegung selbst spaltete sich Anfang der 1920er-Jahre in zwei Lager: das bürgerliche und das der Arbeiter. Der Brückenschlag

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