Grandios gescheitert
den der Besinnung auf althergebrachte Werte? Lag das Heil im Rückzug auf den Nationalismus oder im Zusammengehen des gesamten Kontinents? Bot ein entfesselter Kapitalismus die größeren Entwicklungschancen als der Weg der Sowjetunion, die damals in ganz Europa viele Fürsprecher besaß? Radikalisierung und Ideologisierung ließen eine Vermittlung zwischen den Extremen kaum zu. In Architektur und Städtebau beispielsweise galten Konstruktivismus und Funktionalität als fortschrittlich, jeder Schnörkel und alles Gewachsene dagegen als reaktionär. Modernität um jeden Preis – das führte zu fragwürdigen Auswüchsen wie Le Corbusiers »Wohnmaschinen« oder seinem »Plan Voisin« für Paris, der den weitgehenden Abriss der gewachsenen Stadt zugunsten von breiten Schnellstraßen mit Hochhausscheiben dazwischen vorsah. Die einen bejubelten die radikale Abkehr vom Alten, die anderen verdammten ebendas als kulturlos. (Die eigentliche Abrisseuphorie griff aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg um sich, als in den Städten zugunsten des Wiederaufbaus nicht nur die Kriegstrümmer beseitigt wurden.)
Weit verbreitet war die pessimistische Ansicht, Europa habe unwiderruflich abgewirtschaftet und sei in seiner Zersplitterung im globalen Wettstreit chancenlos. Gänzlich aus der Luft gegriffen war diese Einschätzung in der Tat nicht: angesichts der Dynamik, die in Nord-, aber auch Südamerika zu beobachten war, und angesichts der revolutionären Veränderungen in der jungen Sowjetunion, deren Folgewirkungen durchaus ungewiss waren. Viele befanden, Europa stecke in einem selbstgebauten Käfig, mit dem es sich alle Entwicklungsmöglichkeiten versperre. Dieser Käfig bestand aus der Last von Tradition und Geschichte, der Lähmung als Nachwirkung der Kriegskatastrophe, aber auch der geographischen Begrenztheit. Der Terminus »Lebensraum« wurde zum Modebegriff und umschrieb die angebliche Notwendigkeit, der Kontinent müsse sich seiner geographischen Beschränkungen entledigen, um sich überhaupt noch entwickeln zu können. Das hieß, den Käfig sprengen, in jeder Hinsicht. Technik und Fortschritt erschienen als der richtige Weg, den die Menschheit verfolgen musste. Noch galt Fortschritt als Wert an sich, noch war die Technikeuphorie fast ungebremst. Die nachteiligen Auswirkungen für Umwelt und Gesellschaft zeichneten sich längst ab, konnten dem verbreiteten Glauben an die Segnungen der technischen Entwicklung aber noch nicht gefährlich werden. Mehr als heute bedeutete Kultur – das vom Menschen Geschaffene, die Erde Gestaltende, in die Natur Eingreifende – einen Wert an sich, menschliche Ordnung galt als dem Chaos der Natur entgegengesetzt, klar überlegen und damit gerechtfertigt.
Erhebliche Faszination übte auf die Zwischenkriegszeit die Formel vom »Untergang des Abendlandes« aus, und Oswald Spenglers gleichnamiges Buch aus den Jahren 1918 und 1922 wurde ein Bestseller. Spengler sah den alten Kontinent Europa an seinem historischen Ende angekommen und schaute ohne Zuversicht in die Zukunft. Als begeisterter Anhänger Spenglers überzeugte Sörgel dessen Befund, Europa sei gefährdet, Spenglers Pessimismus aber teilte er ganz und gar nicht. Vielmehr vertrat Sörgel die Auffassung, mit Hilfe der technischen Möglichkeiten der Moderne sei die Krise Europas überwindbar.
Quo vadis, Europa?
Zahllose Künstler und Architekten, Wirtschaftsfachleute und Politiker besuchten in den 1920er-Jahren die Vereinigten Staaten oder die noch junge Sowjetunion. Die dort jeweils spürbare Aufbruchstimmung war etwas, das man in Europa schmerzlich vermissen konnte. Aus den USA berichteten die einen voller Abscheu von den Auswüchsen des dortigen Wirtschaftssystems und der chaotischen Hässlichkeit der unkontrolliert wuchernden Städte; die anderen schwärmten von der »wahrhaften Moderne«, die man dort studieren könne. Sörgel empfand Amerika als kulturlos, aber hinsichtlich seiner zivilisatorisch-technischen Errungenschaften als zukunftsweisend. Er war weder der Erste noch der Letzte, den das unbekümmerte Voranschreiten der USA tief beeindruckte. Sörgel aber scheint dort die Überzeugung gewonnen zu haben, seine technischen, architektonischen und weltanschaulichen Überzeugungen in ein großes Ganzes zu bringen und unbeirrt dessen Umsetzung zu betreiben.
Als er nach der Rückkehr aus Amerika seinen Redakteursposten bei der Zeitschrift Baukunst verlor, erwog er vorübergehend sogar, in die Vereinigten Staaten überzusiedeln. Die
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