Granger Ann - Varady - 01
packten und aus dem Fenster warfen. Es war
kein tiefer Sturz, und er konnte den Sturz abfangen. Trotzdem wurden wir wegen tätlichem Angriff verknackt.«
Declan spielte Bass, und ein Bassist braucht eine Gruppe.
Ein wenig später waren Lucy und ihre beiden Kinder eingezogen. Lucy war keine Künstlerin. Sie war vor ihrem gewalttätigen Ehemann weggerannt und hatte vorübergehend
in einem heruntergekommenen Frauenhaus ein paar Straßen weiter Zuflucht gefunden. Ich hatte mich eines Tages
mit ihr unterhalten, während ich bei Patel’s , dem Gemüseladen an der Ecke, bediente. Sie kaufte Karotten für die
Kinder zum Knabbern. Rohe Karotten stecken voller Vita
min C, sind frei von der Sorte Säuren, die Löcher in den
Zahnschmelz fressen, und obendrein billiger als die meisten
anderen Früchte.
Lucy suchte eine Wohnung, in der sie bleiben konnte,
und einen Job. Das Frauenhaus war überfüllt, und sie hatte
das Gefühl, dass sie es dort nicht mehr länger aushielte. Die
Handfläche ihrer linken Hand war schlimm vernarbt; ihr
Mann hatte ihre Hand während eines Streits auf eine rotglühende Herdplatte gedrückt, weil sein Essen nicht rechtzeitig fertig gewesen war. Die Narben hatten die Beweglichkeit ihrer Hand eingeschränkt, und sie waren hässlich. Lucy
wusste es und erzählte jedem, der danach fragte, dass sie
sich selbst verbrannt habe und dass es ein Unfall gewesen
sei. Eines Abends, nachdem sie bei uns eingezogen war, hatte sie mir die Wahrheit gestanden. Ich hatte mich erstaunt
gezeigt, dass sie so lange bei ihm geblieben war und so viele
Misshandlungen erduldet hatte.
»Es ist nicht einfach wegzugehen, wenn man zwei Kinder
hat«, hatte sie geantwortet.
Sie war erst gegangen, nachdem er angefangen hatte, die
Kinder ebenfalls zu schlagen. Sie sagte, er habe ein Problem
mit Alkohol. Meiner Meinung nach hatte er ein Problem
mit dem Kopf. Doch Lucys Geschichte hatte mir wieder
einmal gezeigt – falls ich da je auch nur den leisesten Zweifel
gehabt hätte – wie wertvoll meine Unabhängigkeit war.
Was das Haus angeht, es stand allein am Ende einer aus
roten Ziegelsteinen erbauten Reihenhaussiedlung. Es war
älter als die übrigen Häuser, unserer Meinung nach frühe
viktorianische Epoche, und es musste einstmals in einem
großen Garten gelegen haben. Vom Garten war nicht mehr
viel übrig, ein verwilderter Dschungel hinter dem Haus und
ein von Unrat übersäter schmaler Streifen zwischen der
Hausfront und dem Bürgersteig. Es gab noch Löcher, wo
einstmals die Pfosten eines Geländers gestanden hatten,
doch das Geländer selbst war lange verschwunden. Das
Haus hatte eine schmutzigweiße Stuckfassade, die an manchen Stellen abbröckelte, einen von Säulen gesäumten Vordereingang, Schiebefenster mit Stuckrahmen und ein mit
Feuchtigkeit vollgesogenes Kellergeschoss. Als es noch neu
gewesen war, muss es einladend und prachtvoll ausgesehen
haben. Heute war es wie die zerzauste alte Landstreicherin
unten an der Straße: nicht mehr im Einklang mit der Welt
ringsum und nur noch zusammengehalten von Schmutz
und improvisierten Instandsetzungsversuchen. Trotzdem,
wir waren bereit gewesen, die Mühe auf uns zu nehmen und
etwas daraus zu machen.
Unglücklicherweise war es nicht erlaubt. Innerhalb weniger Wochen wurden wir von der Stadt (der das Grundstück
gehörte) informiert, dass das Haus im Rahmen irgendwelcher Umstrukturierungsmaßnahmen abgerissen werden solle. Die Pläne seien bereits verabschiedet, und daran lasse
sich nichts mehr ändern. Wir hatten die Stadt bei unserer
Besetzung gebeten, einen regulären Mietvertrag mit uns abzuschließen, doch die Behörde hatte unser Ansinnen ignoriert. Jetzt flatterte ein ganzer Strom von Verlautbarungen
in Beamtenkauderwelsch durch den Briefschlitz, und die
Stadtwerke schalteten den Strom ab für den Fall, dass wir
immer noch nicht begriffen hätten. Immerhin hatten wir
noch Wasser; vielleicht hatten sie es nicht für nötig befunden, uns das Wasser ebenfalls abzudrehen, weil die ganze
Sache nun vor Gericht ging.
Nev schlug vor, dass wir versuchen sollten, das Haus auf
die Liste architektonisch interessanter Objekte setzen zu lassen. Wir schrieben English Heritage an und den National
Trust . Sie bedankten sich für unsere Briefe, doch das Haus
sei nicht interessant genug und sie wollten es nicht.
Einer nach dem anderen zogen die Menschen aus den
angrenzenden Reihenhäusern aus und ließen nichts als leere, mit Brettern vernagelte Hüllen zurück.
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