Grant County 05 - Gottlos
genau wusste, weshalb sie sich entschuldigte.
Er sagte nichts, doch am Knistern in der Leitung hörte sie, dass er sich bewegte. Wahrscheinlich entfernte er sich vom Tatort.
«Woran, glaubst du, ist sie gestorben?»
Sara seufzte, bevor sie antwortete. Sie hasste es zu raten. «So wie wir sie gefunden haben, würde ich schätzen, dass sie keine Luft mehr bekommen hat.»
«Aber was ist mit dem Belüftungsrohr?»
«Vielleicht war es zu eng. Vielleicht ist sie in Panik geraten.» Sara überlegte. «Genau deswegen äußere ich nicht gern eine Meinung, ohne die Fakten zu kennen. Es könnte auch eine ganz andere Todesursache geben, vielleicht hatte sie einen Herzfehler oder war zuckerkrank. Es kann alles Mögliche sein. Ich kann dazu nichts sagen, bis ich sie hier auf dem Tisch habe – und selbst dann haben wir vielleicht erst Gewissheit, wenn die Tests aus dem Labor zurückkommen. Und vielleicht kann ich es noch nicht einmal dann mit Sicherheit sagen.»
Jeffrey dachte über die verschiedenen Möglichkeiten nach. «Du meinst, sie ist panisch geworden?»
«Mir wäre es jedenfalls mit Sicherheit so gegangen.»
«Sie hatte eine Taschenlampe», erinnerte er sie. «Die Batterien waren noch voll.»
«Ein schwacher Trost.»
«Ich brauche ein Foto zum Rausschicken, sobald ihr sie sauber gemacht habt. Irgendwer muss sie doch vermissen.»
«Sie ist versorgt worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass derjenige, der sie da reingesteckt hat, vorhatte, sie für immer dort zu lassen.»
«Ich habe Nick angerufen.» Nick war der zuständige Field Agent des Georgia Bureau of Investigation. «Er ist auf dem Weg in sein Büro und sieht im Computer nach, ob sie dort was haben. Könnte sich um eine Lösegeldforderung handeln.»
Aus irgendeinem Grund war Sara diese Vorstellung lieber als eine Entführung aus rein sadistischen Motiven.
«Ich habe Lena in einer Stunde in die Leichenhalle bestellt», bemerkte Jeffrey.
«Soll ich dich anrufen, wenn sie da ist?»
«Nein», sagte er. «Es wird bald dunkel. Ich komme rüber, sobald wir mit der Spurensicherung fertig sind.» Er zögerte, als hätte er noch etwas auf dem Herzen.
«Was ist?», fragte Sara.
«Sie ist noch ein Kind.»
«Ich weiß.»
Er räusperte sich. «Jemand sucht nach ihr, Sara. Wir müssen rausfinden, wer sie ist.»
«Das werden wir.»
Wieder schwieg er einen Moment. «Ich bin so schnell wie möglich bei euch.»
Sachte legte sie den Hörer auf die Gabel. Jeffreys Worte kreisten in ihrem Kopf. Vor gut einem Jahr war Jeffrey bei einem Einsatz gezwungen gewesen, ein Mädchen zu erschießen. Sara hatte gesehen, wie sich die Szene abspielte. Ein wahr gewordener Albtraum. Sie wusste, dass Jeffrey keine Wahl hatte, genauso wie sie wusste, dass Jeffrey sich niemals verzeihen würde, welche Rolle er in dem tödlichen Drama gespielt hatte.
Sara ging an den Aktenschrank und suchte die Formulare für die bevorstehende Obduktion heraus. Auch wenn der Tod wahrscheinlich auf Ersticken zurückging, würde Sara Blut- und Urinproben nehmen müssen und sie ans Labor der Landesbehörde schicken, wo sie herumliegen würden, bis einer der überarbeiteten Mitarbeiter des GBI die Zeit fände, sich darum zu kümmern. Sara würde Gewebeproben nehmen, die für drei Jahre ins Archiv der Anatomie wanderten. Sie würde forensische Spuren sammeln, eintüten und beschriften. Abhängig davon, was sie entdeckte, mussten auch die nach einer Vergewaltigung vorgeschriebenen Tests durchgeführt werden: Sie würde die Fingernägel abkratzen und schneiden, Abstriche in Vagina, Anus und Mund machen und auf DNA untersuchen. Später würde Sara die Organe wiegen und die Maße der Arme und Beine nehmen. Haarfarbe, Augenfarbe, Muttermale, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Zahl der Zähne, Narben, Hämatome, anatomische Besonderheiten – all das würde in die entsprechenden Formulare eingetragen werden. In ein paar Stunden würde Sara Jeffrey alles sagen können, was es über das Mädchen zu wissen gab, außer der einen Sache, die wichtig war: ihren Namen.
Sara schlug ihr Register auf, um den Fall einzutragen. Das Mädchen würde als «Nr. 8472» in die Akten eingehen. Im Moment gab es in Grant County nur zwei Fälle nicht identifizierter Leichen, und so würde die Polizei vorerst von «Jane Doe Nr. 3» reden. Sara wurde von Traurigkeit überwältigt, als sie die Zahlen in ihr Buch schrieb. Bis ein Familienmitglied ausfindig gemacht wurde, war das Opfer nicht mehr als eine Nummer.
Sara nahm
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