Grant County 05 - Gottlos
schlug auf ihn ein, bis er schließlich explodierte, und erst wenn er sich auf sie stürzte, wenn er ihr wehtat und sievögelte, fühlte sie sich lebendig. Er gab ihr das Gefühl, wieder am Leben zu sein.
Lena hätte das Baby auf gar keinen Fall zur Welt bringen können. Ihr beschissenes Leben war niemandem zuzumuten.
Hank stützte die Ellbogen auf die Knie. «Ich würde es so gern begreifen.»
Eigentlich hätte Hank mit seiner eigenen Geschichte der Erste sein müssen, der sie verstand. Ethan tat Lena nicht gut. Er machte einen Menschen aus ihr, den sie verachtete, und doch kehrte sie immer zu ihm zurück und wollte mehr. Es war wie eine Sucht.
Aus dem Schlafzimmer war eine digitale Melodie zu hören, und Lena brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, dass ihr Telefon klingelte.
Als er sah, dass sie versuchte aufzustehen, sagte Hank: «Ich hole es dir», und war in ihrem Zimmer, bevor sie ihn aufhalten konnte. Sie hörte, wie er ans Telefon ging. «Einen Moment.»
Mit grimmigem Blick kam er zurück und hielt ihr das Telefon hin. «Es ist dein Chef.»
Jeffreys Stimme war genauso düster wie Hanks Miene. «Lena», fing er an. «Ich weiß, dass du noch einen Tag Urlaub hast, aber ich brauche dich.»
Sie sah auf die Uhr an der Wand und überlegte, wie lange es dauern würde, zu packen und zurück nach Grant County zu fahren. Zum ersten Mal seit einer Woche spürte sie ihr Herz schlagen. Adrenalin schoss durch ihre Adern, und sie hatte das Gefühl, aus einem langen Schlaf zu erwachen.
Sie mied Hanks Blick, als sie sagte: «Ich kann in drei Stunden da sein.»
«Gut», antwortete Jeffrey. «Wir sehen uns in der Leichenhalle.»
DREI
Sara hielt die Luft an, als sie sich das Pflaster über den abgebrochenen Fingernagel klebte. Vom Graben waren ihre Hände zerkratzt, und ihre Fingerspitzen waren mit winzigen Schnitten übersät, die sich anfühlten wie tausend Nadelstiche. Diese Woche würde sie in der Klinik besonders vorsichtig sein müssen und darauf achten, dass ihre Wunden stets versorgt waren. Beim Anblick ihres Daumens musste sie unwillkürlich an den Fingernagel denken, der im Holz stecken geblieben war, und bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie sich um solche Nichtigkeiten Gedanken machte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie grauenhaft die letzten Augenblicke im Leben der jungen Frau gewesen sein mussten, aber genau das herauszufinden würde in den nächsten Stunden ihre Aufgabe sein.
Im Laufe ihrer Arbeit im Leichenschauhaus hatte Sara die scheußlichsten Arten gesehen, auf die Menschen zu Tode kamen – Messerstiche, Einschusslöcher, Schläge, Würgemale. Sie bemühte sich zwar, die Fälle ausschließlich von der medizinischen Warte zu betrachten. Doch manchmal kam es vor, dass das Opfer für sie wieder zu einem lebendigen, atmenden Wesen wurde, das sie um Hilfe anflehte. Das tote Mädchen aus der Kiste im Wald hatte Sara angefleht. Die Panik in ihrem starren Blick, die Hand, die nach Sara zu greifen schien – der stumme Hilfeschrei. Die letzten Augenblicke der jungen Frau mussten unvorstellbar grausam gewesen sein. Es gab keinen schlimmeren Tod, als bei lebendigem Leib begraben zu werden.
Das Telefon in ihrem Büro klingelte, und Sara lief eilig durch die Halle, um abzunehmen, bevor der Anrufbeantworter ansprang. Sie war einen Moment zu spät, und als sie den Hörer abnahm, piepte die Rückkoppelung im Lautsprecher.
«Sara?», fragte Jeffrey.
«Ja», bestätigte sie und schaltete den Anrufbeantworter aus. «Tut mir leid.»
«Wir haben nichts gefunden», sagte er, und sie hörte seiner Stimme an, wie frustriert er war.
«Keine Vermisstenmeldungen?»
«Vor ein paar Wochen wurde ein Mädchen gemeldet», erklärte er, «aber sie ist gestern bei ihrer Großmutter aufgetaucht. Warte mal.» Sie hörte ihn im Hintergrund murmeln, dann war er wieder am Apparat. «Ich ruf dich gleich zurück.»
Bevor Sara etwas erwidern konnte, klickte es in der Leitung. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihren Schreibtisch, auf dem die Papiere und Notizzettel in ordentlichen Stapeln lagen. Alle Stifte steckten in einer Tasse, und das Telefon bildete einen exakten Winkel zur Tischkante. Carlos, ihr Assistent, hatte eine Vollzeitstelle im Leichenschauhaus, und manchmal hatte er tagelang nichts zu tun, außer Däumchen zu drehen und darauf zu warten, dass jemand zu Tode kam. Offensichtlich hatte er sich die Zeit damit vertrieben, ihr Büro aufzuräumen. Sara fuhr mit dem Finger über einen Kratzer in der
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