Grant County 05 - Gottlos
Krankenschwester Lena in dem alten, quietschenden Rollstuhl über den Parkplatz schob. Nan hätte Lena getröstet, ihr vielleicht sogar Tee gebracht und sie zum Essen gezwungen, statt zuzulassen, dass Lena hungerte und sich selbst bestrafte, die Schuldgefühle und die brennende Leere in ihrem Magen genoss. Vor allem hätte sie Lena nicht den ganzen Tag im Bett liegen und aus dem Fenster starren lassen.
Wahrscheinlich war das genau der Grund, warum Lena sie nicht eingeweiht hatte. Nan wusste so schon viel zu viel von Lena. Es war nicht nötig, der langen Liste einen weiteren Fehltritt hinzuzufügen.
«Du musst mit jemandem reden», sagte Hank.
Lena stützte das Gesicht in die Hände und starrte an die Wand hinter ihm. Sie war so müde, dass ihre Augenlider flatterten. Fünf Minuten. Sie würde ihm fünf Minuten geben und dann zurück ins Bett gehen.
«Was du getan hast …» Er zögerte. «Ich verstehe, warum du es getan hast. Wirklich.»
«Danke», war alles, was sie dazu sagte.
«Ich wünschte, ich könnte es tun», setzte er an und knetete seine Hände. «Ich würde den Kerl zu Brei schlagen und ihn irgendwo verscharren, wo ihn keiner findet.»
Diese Unterhaltung führten sie nicht zum ersten Mal. Meistens redete Hank, und Lena starrte vor sich hin, bis er endlich merkte, wie einsilbig sie war. Er war einfach bei zu vielen A A-Treffen gewesen, hatte zu viele Säufer und Junkies gesehen, die einem Haufen Fremder ihr Herz ausschütteten, nur um dafür einen kleinen bunten Plastikchip zu bekommen, den sie dann mit sich herumtrugen, um sich an ihren guten Willen zu erinnern.
«Ich hätte das Kleine großziehen können», sagte er, und auch dieses Angebot war nicht neu. «So wie ich dich und deine Schwester großgezogen habe.»
«Ja», seufzte sie und zog den Bademantel enger um sich. «Das hast du ja großartig hingekriegt.»
«Du hast mich nie gelassen.»
«Was habe ich dich nicht gelassen?», fragte sie. Sibyl war immer sein kleiner Liebling gewesen. Sibyl war die Brave, die Zugängliche der beiden. Lena war bockig und unfolgsam.
Sie ertappte sich dabei, dass sie ihren Bauch streichelte, und zwang sich, damit aufzuhören. Ethan hatte ihr mit aller Kraft in den Magen geschlagen, als sie ihm sagte, sie sei nicht schwanger, es sei nur falscher Alarm gewesen. Er hatte sie gewarnt, er würde sie umbringen, sollte sie jemals ein Kind von ihm abtreiben lassen. Er warnte sie oft, vor allem Möglichen, aber sie hörte nie auf ihn.
«Du bist eine starke Frau», sagte Hank jetzt. «Ich verstehe nicht, warum du zulässt, dass dieser Kerl so viel Macht über dich hat.»
Sie hätte es ihm erklärt, wenn sie gewusst hätte wie. Männer konnten das nicht verstehen. Männer konnten nicht begreifen, dass es keine Rolle spielte, wie stark man war, sei es physisch oder psychisch. Da war dieser Mangel tief in ihr drin, und die Art, wie ein Kerl es schaffte, den Schmerz verschwinden zu lassen. Früher hatte Lena Frauen verachtet, die sich von Männern verprügeln ließen. Was war los mit ihnen? Warum konnten sie nicht auf sich aufpassen? Sie waren erbärmlich, bekamen genau das, worum sie gebeten hatten. Manchmal hätte Lena am liebsten selber zugeschlagen, sie angeschrien, dass sie sich endlich zusammenreißen sollten, statt freiwillig den Fußabtreter zu spielen.
Wenn man selbst drinsteckte, sah die Sache allerdings ganz anders aus. So leicht es ihr fiel, Ethan zu hassen, wenn er nicht da war – wenn er bei ihr war und sie gut behandelte, wünschte sie sich, er würde nie wieder gehen. Er war in der Lage, ihr armseliges Leben schlimmer oder besser zu machen, abhängig von seiner Laune. Und irgendwie war es eine Erleichterung, ihm diese Macht über ihr Leben zu geben, denn damit hatte sie eine Verantwortung weniger am Hals. Außerdem schlug sie manchmal zurück. Manchmal war sie es, die damit anfing.
Fast alle Frauen, die sich schlagen ließen, behaupteten, sie seien selbst schuld, hätten ihren Freund oder Ehemann provoziert, das Essen anbrennen lassen oder nannten sonst einen Grund, der es rechtfertigte, dass ihnen die Seele aus dem Leib geprügelt worden war. Lena dagegen wusste ganz genau, dass sie Ethans dunkle Seite mit Absicht heraufbeschwor. Er hatte sich ändern wollen. Als sie ihn kennenlernte, hatte er sich mit aller Kraft bemüht, ein anderer Mensch zu werden, ein guter Mensch. Es war nicht Ethan, der schuld an den blauen Flecken war. Es war Lena. Sie stachelte ihn immer wieder an. Sie hetzte ihn auf und
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