Grant County 05 - Gottlos
einen weiteren Stapel Formulare aus dem Schrank und blätterte ihn durch, bis sie die standardisierte Sterbeurkunde der Vereinigten Staaten fand. Sie war gesetzlich verpflichtet, innerhalb von achtundvierzig Stunden einen Totenschein für das Mädchen auszustellen. Jeder ihrer Schritte trieb die Verwandlung des Menschen in eine Nummer voran. Nach derObduktion würde Sara den entsprechenden Zahlencode für die Todesart heraussuchen und in das dafür vorgesehene Kästchen eintragen. Das Formular wurde an die nationale Gesundheitsbehörde geschickt, die die Daten an die Weltgesundheitsorganisation weitergab. Dort wurde der Fall katalogisiert und analysiert, das Mädchen erhielt noch mehr Codes und Ziffern, die mit Daten aus dem ganzen Land und anschließend der ganzen Welt verglichen wurden. Die Tatsache, dass die junge Frau Familie, Freunde, vielleicht einen Geliebten hatte, spielte bei alldem nicht die geringste Rolle.
Wieder dachte Sara an das Mädchen in dem selbstgezimmerten Sarg, an die Todesangst in ihren Augen. Sie war jemandes Tochter. Als sie zur Welt kam, hatte jemand sie im Arm gehalten, ihr ins Gesicht geblickt und ihr einen Namen gegeben. Jemand hatte sie geliebt.
Das altersschwache Getriebe des Fahrstuhls sprang an. Sara legte die Papiere zur Seite und stand auf. Sie wartete vor der Fahrstuhltür und lauschte der ächzenden Maschinerie, als die Kabine den Schacht herunterkroch. Carlos war ein unglaublich ernster Mensch, und sie hatte ihn sehr selten Witze machen hören. Aber über den uralten Fahrstuhl scherzte selbst er.
Auf dem altmodischen Zifferblatt, das die Etage anzeigte, hing der Zeiger zwischen null und minus eins, fast ohne sich zu bewegen. Sara lehnte sich gegen die Wand und begann die Sekunden zu zählen. Bei achtunddreißig war sie kurz davor, den Hausmeister zu rufen, aber plötzlich schrillte die Glocke durch den gefliesten Raum, und die Fahrstuhltür öffnete sich.
Carlos stand hinter der Bahre und wirkte beunruhigt. «Ich habe schon gedacht, wir sind steckengeblieben», murmelte er mit seinem starken spanischen Akzent.
«Ich helfe dir.» Sara griff nach einem Ende der Bahre. Der Arm des Mädchens stand noch immer in dem gleichen flachen Winkel ab, in dem es versucht hatte, sich aus der Kiste zu befreien.Sara musste die Bahre leicht anheben, damit sie nicht an der Tür hängen blieb.
Sie fragte Carlos: «Hast du sie schon geröntgt?»
«Ja, Ma’am.»
«Gewogen?»
«51,3 Kilo», erklärte er. «Ein Meter sechzig.»
Sara notierte die Werte auf der Weißwandtafel an der Wand. Dann steckte sie die Kappe auf den Marker und sagte: «Legen wir sie auf den Tisch.»
Am Fundort hatte Carlos das Mädchen in einen schwarzen Leichensack gelegt, den sie jetzt zu zweit an den Ecken nahmen und auf den Tisch hoben. Sara half Carlos, den Reißverschluss zu öffnen, und schweigend bereiteten sie die Leiche auf die Untersuchung vor. Carlos zog sich Latexhandschuhe an und schnitt die braunen Papiertüten auf, die er über die Hände des Mädchens gestülpt hatte, um mögliche Spuren zu konservieren. Obwohl das lange Haar stellenweise verklettet war, ergoss es sich seidig über die Tischkante. Sara zog ebenfalls Handschuhe an und schob das Haar zurück auf den Tisch. Sie ertappte sich, dass sie dem angstverzerrten Gesicht des Mädchens sorgsam auswich. Ein kurzer Blick auf Carlos verriet ihr, dass es ihm genauso ging.
Während Carlos begann, das Mädchen auszuziehen, nahm Sara aus dem Metallschrank neben den Spülbecken einen O P-Kittel und eine Schutzbrille. Sie legte beides auf die Ablage neben dem Untersuchungstisch. Als Carlos den milchweißen Körper des Mädchens unter dem grellen Neonlicht freigelegt hatte, überkam Sara erneut tiefe Traurigkeit. Die kleinen Brüste steckten in einer Art weißem Sport-BH, dazu trug sie eine dieser großen Baumwollunterhosen, die Art, die Sara immer mit alten Leuten assoziierte. Großmutter Earnshaw hatte ihr und Tessa jedes Jahr einen Zehnerpack davon zu Weihnachten geschenkt, und Tessa nannte sie Oma-Schlüpfer.
«Kein Etikett», stellte Carlos fest, und Sara stellte sich neben ihn. Er hatte das Kleid auf Packpapier ausgebreitet, damit keine Spur verlorenging. Sara wechselte die Handschuhe, bevor sie den Stoff berührte. Das Kleid war schlicht geschnitten, hatte lange Ärmel und einen steifen Kragen. Es war aus einer Art grober Baumwolle gemacht.
Sara betrachtete die Nähte. «Sieht nicht so aus, als ob es von der Stange ist», sagte sie und dachte, dass
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