Grappa 10 - Zu bunt für Grappa
ganz weiß. Oder vielleicht waren es doch die Augen – grünblau und tief wie Gletscherseen.
»A votre santé!«, prostete er mir zu.
Ich trank zu hastig und musste husten. Der Champagner spritzte quer über den Tisch.
»Tut mir Leid«, keuchte ich, mühsam um Fassung ringend.
»Kein Problem«, meinte Sterner besorgt. »Kann ich etwas tun?«
Ich schüttelte den Kopf und hustete noch einmal kräftig. Zum Glück half es.
»Das ist wieder typisch für mich«, versuchte ich zu erklären. »Wenn ich mit einem netten Mann zusammen bin, habe ich entweder Herpes, meine Tage oder ich spucke über den Tisch.«
Er lachte schallend und laut. Warf dabei den Kopf zurück. Ich sah den muskulösen Hals und die kräftigen Schultern und ich fühlte mich wohl, wohler als während des gesamten verdammten Urlaubs.
Er erzählte von seiner Arbeit, am liebsten formte er Figuren aus Stein, Frauenkörper aus Granit oder Marmor, aber auch Abstraktes, archaische Formen, naturverbunden und einfach.
Ich hörte nicht richtig hin, überließ mich dem Sog seiner Stimme, trank ein bisschen und aß ein wenig, stellte keine einzige Frage zu Kolatschkes Tod, alles war so weit weg. Nah war der, der mir gegenüber saß.
Das gibt es nicht, dachte ich und wusste, dass es das doch gibt, und zwar genau so – wie hier und jetzt.
Wir blieben lange, kümmerten uns nicht um die immer mürrischer werdenden Kellner, die endlich Feierabend machen wollten.
Aber irgendwann standen wir dann doch auf der Straße. Der Champagner hatte meine Seele beschwingt und nicht betäubt. Was würde jetzt geschehen?
»Es war ein wunderschöner Abend«, begann ich den Rückzug. »Vielen Dank dafür.«
»Ist der Abend denn schon zu Ende?«, fragte er zum Glück.
»Ich weiß nicht.«
»Wir könnten in meinem Atelier noch einen Abschiedstrunk nehmen«, schlug Sterner vor.
Ich sah ihn an, wusste, wie es enden würde, hakte mich wieder bei ihm ein und ging schweigend neben ihm her. Vor einem Haus stoppte er, ein paar Stufen führten nach unten, ein Schüssel wurde ins Schloss gesteckt, eine Tür geöffnet. Er schob mich vor sich her ins Dunkel. Ein schwaches Licht funzelte. Ich blinzelte. Da standen mit Tüchern verhüllte Figuren, Werkzeuge waren verstreut, feiner weißer Staub lag überall verteilt, Skizzen und Eimer und Töpfe. Ich sah Legionen leerer Weinflaschen, Pizzaschachteln und altes Baguette.
»Es sieht hier schrecklich aus«, murmelte Joe. »Aber ich war auf Besuch nicht eingestellt.«
Er lief zu einem kleinen Kühlschrank. Sein Gang war schwer und beschwingt zugleich. Er muss Bärenkräfte haben, dachte ich, das kommt bestimmt vom Steineschleppen. Ich hatte eine Vision von muskulösen Schultern und starken Armen.
»Ich wusste doch, dass ich noch eine Flasche Wein hatte«, strahlte Joe mich an. »Sehen Sie irgendwo Gläser?«
Ich blickte mich um, wähnte sie auf einem länglichen Tisch und ging hin. Zwei Gläser, die von leichtem Staub bedeckt waren.
»Gibt's hier irgendwo Wasser?« Doch da hatte ich das Waschbecken schon entdeckt.
Ich wusch die Gläser aus, wollte zurück, stieß dabei gegen einen Tisch, etwas fiel herunter, ich bückte mich. Es war ein Foto und es zeigte eine alte Frau, die eine siamesische Katze auf dem Schoß hielt. Neben ihr wachte ein großer brauner Hund mit einer weißen Pfote, die auf dem Oberschenkel der Frau lag, gleich neben der Katze. Er sah aus wie das Monster, mit dem ich in der Provence gekämpft hatte.
»Wer ist das?«, fragte ich und hielt Joe das Foto hin.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich habe das Bild hier vorgefunden. Es muss meinem Vorgänger gehört haben. Ich habe das Atelier von einem Maler übernommen. Er muss das Foto wohl vergessen haben.«
»Warum haben Sie es nicht weggeworfen?«
»Ich hab's nicht fertig gebracht. Mir gefiel die alte Frau auf dem Bild.«
»Sie sieht sehr ...« Ich suchte nach Worten. »... würdevoll und stolz aus.«
»Haben Sie die Gläser?«
Ich reichte sie ihm und er goss ein. Meine Augen saugten sich an seinem Gesicht fest.
»Ist was?«, lachte er.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, zog seinen Kopf zu mir herunter und küsste ihn voller Verlangen. Der Wein floss auf den Boden.
Er hatte mich gepackt und langsam sanken wir auf die Knie. Seine Zunge erkundete jeden Winkel meines Mundes, mit seinen weißen Zähnen biss er in meine Lippen, dann küsste er meine Ohren.
Ich war noch nie mit einem Mann am ersten Abend ins Bett gegangen, doch jetzt wollte ich genau das und
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