Grappa 16 - Rote Karte für Grappa
Hilfe. Margit Sauerwald wollte Tee trinken, stieß dabei die Tasse um und sah erschrocken zu, wie die rote Brühe auf dem Bettbezug versickerte.
»Hagebuttentee! Moment, das haben wir gleich.«
Ich tupfte mit einem Papiertaschentuch auf der Decke herum, kam ihr dabei näher. Sie lächelte mich an – dankbar und leicht verstört.
»Ich sehe, dass es dir schon viel besser geht«, plapperte ich drauflos. »Du hast Schreckliches erlebt, aber bald ist alles wieder gut. Und die Polizei wird das Schwein kriegen, das dich überfallen hat.«
Ihr Blick verdunkelte sich. Das war keine Glanzleistung, Grappa, dachte ich. Ich hatte sie an das Verbrechen erinnert und sie machte zu.
Die Hämatome in ihrem Gesicht wirkten im Zwielicht der Notbeleuchtung fast schwarz. Sie sah erbarmungswürdig aus.
»Was ist denn nun eigentlich passiert?«, traute ich mich zu fragen. »Willst du es mir nicht erzählen?«
»Ich dachte, ich müsste sterben«, antwortete sie tonlos.
Eine Stunde später schlich ich mich aus dem Zimmer. Ich hatte alles, was ich wollte.
Auf dem Flur war es ruhig, das Pflegepersonal saß im Aufenthaltsraum, quatschte und qualmte. Auch Pascal befand sich dort. Er war mit der Kaffeemaschine beschäftigt und drehte mir den Rücken zu.
Der Zettel, den ich auf meinem Kopfkissen hinterlassen hatte, würde ihn bei seinem nächsten Rundgang beruhigen und ihm bestätigen, dass ich das Haus auf eigenen Wunsch und eigene Gefahr verlassen hatte.
Ich drückte die Reisetasche eng an den Körper und erreichte schließlich den Aufzug.
Der Lift schwebte heran und öffnete sich. Drei Krankenschwestern wollten ebenfalls nach unten. Sie grüßten, hielten mich wohl für eine späte Besucherin. Ich stellte mich so, dass sie den zerfetzten Pullover nicht sehen konnten, passierte die Pforte und war draußen.
Die Luft war kühl, ein leichter Wind verfing sich in meinem Haar und wuselte es vollends durcheinander. So musste sich ein spanischer Konquistador gefühlt haben, der seinen Fuß auf einen neuen Kontinent gestellt hatte.
Das Leben hat mich wieder, dachte ich.
Auf der Straße vor der Klinik warteten Taxis auf Kunden. Ich nahm mir eins, bat den Fahrer, am Bahnhof vorbeizufahren. Ich brauchte ein paar Lebensmittel und dort hatte ein Lädchen fast rund um die Uhr geöffnet.
In meiner Straße war alles wie immer. Mein Cabrio stand brav geparkt, aber völlig verdreckt in der Parkbucht vor dem Haus unter den großen Platanen. Vögel hatten den schwarzen Lack weißgrau besprenkelt.
Ich öffnete die Wohnungstür, machte Licht, ging gleich durch ins Wohnzimmer und riss die Balkontüren auf. Luft! In der Küche räumte ich die Notration Lebensmittel aus der Tüte, checkte die Konservendosen und die Pastapackungen – es waren noch getrocknete Steinpilze, Pesto und andere Soßen da. Jetzt brauchte ich noch Musik und einem einsamen, aber auch wunderbaren Abend in Freiheit stand nichts mehr im Wege.
Jansens Päckchen mit den Artikeln legte ich auf den Esstisch, dann setzte ich das Pastawasser auf und entkorkte eine Flasche Rivaner.
Inzwischen war mein Verschwinden aus dem Krankenhaus bestimmt bemerkt worden. Egal, die Klinik war keine geschlossene Anstalt.
Ich dachte, ich müsste sterben, hatte Margit Sauerwald im Krankenhaus gesagt. Anschließend hatte sie mir mit stockenden Worten erzählt, was passiert war. Ich hatte schon einige Male mit Frauen gesprochen, die Opfer von sexueller Gewalt geworden waren, und immer wieder packte mich eine ungeheure Wut, wenn ich an die Typen dachte, die ihre Triebe nicht unter Kontrolle halten konnten und das Leben so vieler Frauen und Mädchen negativ beeinflussten und oft zerstörten. Untherapierbare Wiederholungstäter sollten meiner Ansicht nach lebenslang aus dem Verkehr gezogen werden, und basta.
Mit dem Weinglas in der Hand inspizierte ich meine CD-Sammlung, konnte mich nicht entscheiden. Eine CD, die ich vor meiner Krankenhauszeit gehört hatte, lag noch im Player. Ich hatte keine Ahnung, welche es sein könnte, drückte die Taste und hörte Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen.
Das passte zu meiner Stimmung und der Story, die vor mir lag. Das Quartett war Schuberts düsterstes Werk. Alle vier Sätze stehen in Moll. Es schildert den musikalischen Dialog zwischen einem jungen Mädchen und dem Tod. Matthias Claudius hatte das Gedicht geschrieben und Schubert ein Lied und das Streichquartett, dessen Klänge jetzt meine Wohnung erfüllten. Wild, jähzornig und aufbrausend. Ich
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