Grappa Und Die Seelenfaenger
Persönlich habe ich kein Verständnis für sein Verhalten, aber das haben wir als Gericht nicht zu beurteilen.«
»Wie hat die Mutter auf das Urteil reagiert?«, fragte ich.
»Hysterisch. Sie schrie und tobte. Die Justizbeamten mussten sie schließlich aus dem Saal führen.«
Ich konnte kaum glauben, dass sie von der coolen Klara redete, die versucht hatte, mich auszutricksen.
»Können Sie mir mehr sagen über den Vater? Vielleicht den Vornamen? Ich suche ihn.«
»Tut mir leid. Datenschutz.«
Ich durchforstete das Netz noch einmal nach Spuren der Billerbecks – jetzt verknüpft mit den Worten Sorgerecht und USA – vergebens. Auf diesem Weg kam ich nicht näher an Klara heran.
In der Kaffeeküche traf ich Harras.
»Hast du dich inzwischen entschieden?«, fragte ich.
»Was?«, fragte er zurück.
»Ob du kündigst oder nicht.«
»Mist, der Kaffee ist alle«, lenkte er ab. »Ich frag mal, ob die drei mit dem S noch irgendwo ein Päckchen gebunkert haben.«
Kurze Zeit später kehrte er mit einem Pfund Kaffee zurück.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte ich ihn.
Harras schüttete Kaffeepulver in den Filter.
»Aus dem Wechsel wird nichts«, antwortete er dann. »Ich bleibe. Sie haben sich für jemand anderen entschieden. Auch Wayne darfst du weiter rumschubsen.«
»Oh, super«, freute ich mich. »Dann hat meine Mail an die Blöd-Zeitung doch was genutzt. Ich hab denen Fotos von deinen Pullovern geschickt.«
»Du hast was?« Er war wie vom Donner gerührt.
»Achtung! Scherz!«, sagte ich schnell, bevor er sich aufregen konnte.
Er konnte nicht darüber lachen. »Ich bin zu alt für einen Wechsel.«
»Finde ich auch.«
»Ich fühle mich nicht zu alt. Aber man hat mir gesagt, dass ich zu alt sei. Die Stelle bekommt Bärchen Biber.«
»Bärchen haut ab?«, rief ich begeistert. »Das ist ja super. Aber dass die ihn nehmen! Das Blatt hat doch schwer über den Betroffenheitskoffer abgelästert.«
»Das scheint Schnee von gestern zu sein. Er ist noch keine dreißig und kann sich gut verkaufen.«
»Der? Neulich hat er hier in der Küche wie ein kleines Mädchen geheult.«
»Das war wegen der Abmahnung. So was macht sich nicht gut in einer Vita«, enthüllte Harras.
»Stimmt. Deshalb hab ich alle Abmahnungen, die ich je bekommen habe, aus der Personalakte rausgeklagt.«
»Ich muss los, Grappa.« Harras stellte den Becher ab.
»Simon?«
»Ja?«
»Ich freue mich sehr, dass du bleibst.«
»Ohne Scheiß?«
»Ohne Scheiß!«
Reden hilft Denken
Heinrich von Kleist, vermutlich verwandt mit meinem Lieblingshauptkommissar, hat ein Traktat Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden geschrieben. Und zwar vor über zweihundert Jahren. Kleist behauptete, wenn der Sprechende seine Gedanken ordnet, um seine Sichtweise dem Hörenden zu erläutern, wird er sich der Dinge bewusster und gelangt dadurch zu einer tieferen Einsicht in die von ihm angesprochenen schwierigen Sachverhalte. Wir würden heute sagen: Darüber reden ist hilfreich.
In der Bäckerei und während meiner Gespräche mit Anneliese Schmitz waren mir schon häufiger ganze Kronleuchter aufgegangen. Nicht, dass ich es darauf angelegt hätte – im Gegenteil. Oft wollte ich gar nicht reden, doch Frau Schmitz konnte sehr stur sein und hörte nicht auf, Fragen zu stellen. So verhalf sie mir regelmäßig zur kleistschen tieferen Einsicht.
»Hallo, Frau Grappa«, begrüßte sie mich. »Auch mal wieder da. Wie isses?«
»Hallo, Frau Schmitz. Schön, dich zu sehen. Mir isses gut. Und selbst?«
»Muss«, meinte sie. »Gehst du durch? Soll ich was machen?«
»Eine Kleinigkeit wäre nicht schlecht.«
»Brötchen mit Schinken und Käse?«, schlug sie vor.
»Gute Idee.«
»Kommt noch wer?« Sie hatte Neugier im Blick.
»Ich glaub nicht«, enttäuschte ich sie.
Ich begab mich ins Bistro. Es war noch ziemlich leer und ich konnte meinen Stammplatz einnehmen – hinten rechts und von der Straße aus nicht einsehbar.
Ich griff nach einem lokalen Frauenmagazin, das die In-Läden in Bierstadt vorstellte: Bars, Clubs, Sonnenstudios, Wellness-Schuppen und Klamottenläden. Nichts davon interessierte mich. Ich würde lieber durch den Gaza-Streifen laufen als durch Boutiquen. Immerhin fiel mir wieder das Glencheckkaro ins Auge. Es zierte einige der abgebildeten Klamotten und meine Gedanken waren prompt bei Klara Billerbeck.
Frau Schmitz brachte das Brötchen.
»Was würdest du machen, wenn man dir deine Kinder wegnimmt?«,
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