Graue Schatten
Hildegard sah gerade noch, wie Kevin Larissas Hand losließ, als die zwei zusammen aus dem Schwesternzimmer kamen.
Larissa lief an Hildegard vorbei, zum Aufenthaltsraum. „Ich geh schon vor, ich klingle dann, wenn ich dich brauche, Kevin.“
„Ich bin nebenan“, antwortete er, und zu Hildegard sagte er: „Na, bald geschafft?“
„Bald. Gut die Hälfte. Seid ihr jetzt zusammen?“ Oder was sollte das Händchenhalten sonst bedeuten?
„So kann man das ausdrücken.“
„Ladet ihr mich zu eurer Hochzeit ein?“
Hinter ihr lachte Larissa, murmelte etwas wie, dass es noch nicht ganz so weit sei, und verschwand Herrn Kocher vor sich her schiebend in dessen Zimmer.
„Aber klar laden wir dich ein, Hilde.“ Kevin kam ganz nah heran und flüsterte ihr hinter vorgehaltener Hand zu: „Und den Brautstrauß wird Lara in deine Richtung werfen. Du weißt, was du dann zu tun hast?“
Nun lachte Hildegard. „Ich kann ja schon mal Fangen üben.“
„Gute Idee. Also bis Morgen, falls wir uns nicht mehr über den Weg laufen. Die Pflicht ruft.“
Kevin ging ins Zimmer von Frau Tiefenbach.
„Tschau, Kevin, bis Morgen.“
Na ja, ob das Fangenüben viel nutzen würde, ist noch die Frage, dachte Hildegard. Aber dass Kevin gleich wieder vergeben ist, ist auch keine Wunder. Bei seinem Charme.
So, noch acht Zimmer abräumen, dann war ihr zweistündiger Dienst für heute wieder beendet. Als Nächstes Frau Öchsle. Die Ärmste, noch so jung und das Leben war schon vorbei. Mal sehen, ob die von der Pflege sie wieder selber essen lassen hatten, und sie dann so verschmiert liegen ließen, bis sie zum Schlafen fertig gemacht wurde.
„Hallo, Frau Öchsle.“
„Ack.“
Die Schüssel mit Grießbrei stand noch halbvoll vor ihr. Und Frau Öchsle war verschmiert bis zu den Ohren. Ihr Latz war vollgesabbert wie der einer Zweijährigen.
„Haben die Sie einfach wieder so hier liegen lassen, was? Ich mach Sie erst mal sauber“ Sie lief ins Bad und hielt einen Waschlappen unter den Wasserhahn.
„Und immer kriegen Sie den ekligen Grießbrei oder nur solche dünnen Suppen. Davon kann man ja nicht satt werden“, schimpfte sie, während sie dann Frau Öchsle das Gesicht abwischte und ihr den Latz abband.
Hildegard ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder, schob den ausklappbaren Tisch beiseite und streichelte die Wangen der Frau, die vielleicht noch zwanzig oder dreißig Jahre ans Bett und ihre Krankheit gefesselt leben musste – vielleicht aber auch nur noch sehr kurze Zeit. Wer konnte das wissen?
„Schaun Sie mal, ich hab hier was Leckeres für Sie.“ Hildegard holte ein halbes Laugenbrötchen unter ihrer Schürze hervor.
„Ich weiß, dass Sie keine Teigwaren essen dürfen, weil Sie sich immer gleich verschlucken. Ich will ja auch nicht, dass Sie ersticken, Frau Öchsle. Aber sie brauchen nur kleine Happen abzubeißen, dann kann gar nichts passieren.“ Hildegard seufzte schwer.
Eine Stimme in ihrem Kopf sprach weiter: Und falls doch ein Kloß im Hals stecken bleibt, ist es schnell vorbei. Besser kurz und schmerzhaft, als ein Leiden ohne Ende. Ich weiß, wie das ist, wenn das Elend nicht aufhört, Frau Öchsle. Wenn Sie das hier essen, ist ihr Leiden bald vorbei, versprochen. Bei den anderen ging es auch sehr schnell.
„Ich gebe es Ihnen in die Hand. So ... Stecken sie die Hand schön unter die Bettdecke, damit es die Schwester nicht sieht, wenn sie nachher noch mal nach Ihnen schaut.“
Frau Öchsle lächelte. „Ank.“ Sie schloss ihre linke Hand fest um das Brötchen.
„Ja, so ist's gut, schön verstecken. Und wenn sie nachher Hunger haben, nehmen Sie sich einen Happen. Ich muss jetzt leider weiter. Alles Gute, Frau Öchsle.“
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