Graue Schatten
den Knopf zu drücken und die für das Betreute Wohnen verantwortliche Pflegerin oder eben die Nachtwache zu rufen. Konnte sie nicht wenigstens warten, bis Werbung kommen würde?
Larissa ging zur Wohnungstür, schaute durch den Spion und riss augenblicklich die Tür auf.
„Kevin!“
„Sorry, ist es dir unangenehm, wenn dich ein Knacki besucht?“
„Blödmann! Komm rein!“
Als die Tür zu war, umarmten sie sich. Tränen flossen. Natürlich nur bei Larissa. Kevin konnte es sich gerade so verkneifen.
„Haben sie dich rausgelassen? Bist du unschuldig?“
„Nee, geflüchtet!“
Larissa runzelte die Stirn.
„Quatsch! Natürlich haben sie mich rausgelassen. Sie haben wohl jetzt den Richtigen.“
Sie bat den Knacki ins Wohnzimmer, machte den Fernseher aus und holte spontan eine Flasche Sekt aus dem Küchenschrank. Kevin wäre ein Bier lieber gewesen, aber das hatte Larissa nicht da. Nicht so schlimm, meinte er, während er am Verschluss drehte und es dann knallen ließ. Er habe sowieso schon zu Hause eins getrunken.
Sie stießen auf die Freiheit an. Und dann wollte Larissa alles wissen.
Als er ihr detailliert berichtet hatte, war die Arztserie längst zu Ende. Kevin hatte bei der Festnahme am Freitag angefangen, hatte von den Vorwürfen erzählt, die ihm gemacht worden waren, von dem Schock, den er offenkundig gehabt hatte, von seinen Alpträumen, vom Horrorwochenende in der Zelle mit dem scheißbraunen PVC-Fußboden, davon, dass er Locke wegen des verschwundenen Diazepams belastet hatte, schließlich auch von der Nacht, in der Frau Sausele ermordet worden war, von dem fremden, und doch bekannten Geruch, den er nachts auf Station B wahrgenommen hatte, bis zu der Unterhaltung, die er mit Strobe gehabt hatte, bevor sie ihn heute Nachmittag wieder einem Haftrichter vorführten und danach rausließen.
Larissa war regelrecht geschockt. Dass Frau Sausele erstickt worden war, das hatte sich noch nicht rumgesprochen, obwohl die Polizei es, Kevins Bericht nach, schon seit Samstag wusste. Das sei ja richtig gruslig, meinte Larissa. Der Mörder war auf Station, als Kevin über den Gang lief, und erstickte Frau Sausele mit einem Kissen, als Kevin sich wieder im Ruheraum hingelegt hatte? Unfassbar! Sie würde nicht damit fertig werden, sagte sie. Und, er solle doch einen Krimi darüber schreiben. Kevin lachte und sagte, dazu habe er kein Talent.
Wer nun Frau Sauseles Mörder war, hatte Hauptkommissar Strobe nicht sagen dürfen oder können. Dass Andrej Kovalev, Bettis Neuer, einen Zwillingsbruder hatte, nach dem noch gefahndet wurde, hatte der Leitbulle aber verraten. Außerdem hatte er Kevin über Locke, intensiv über Hansen und vor allem über Frieder Sausele ausgefragt. Und er hatte angedeutet, dass Kevin wahrscheinlich noch einmal vor Gericht antanzen müsse. Allerdings als Zeuge.
Was die drei anderen Todesfälle betraf: Im Fall Müller konnten sie ihm wohl nicht nachweisen, dass er an diesem Felsen gewesen war, von dem sie abgestürzt war. Und die Akten von Leutle und Fritz wurden angeblich gerade von Sachverständigen begutachtet, wobei die Bullen wohl selber nicht glaubten, dass die etwas herausfinden würden, was Kevin belastete. Sonst hätten sie ihn ja nicht rausgelassen.
Kevin berichtete Larissa nun, was er auf Strobes Fragen hin über den Sohn von Frau Sausele erzählt hatte, und was sie teilweise schon selber wusste: Sausele hatte oft lamentiert und sich über seine Mutter beklagt. Mit Recht. Sie wurde ja in den letzten Jahren immer unerträglicher. Aber der Sohn redete auch immer wieder vom Geld, was sie ihn koste, und auch darüber, dass sie undankbar sei. Er selber habe ein Leben lang geschafft, die kaputte Firma saniert und durch Fleiß wieder nach oben gebracht. Sie hingegen habe den Pflichtanteil ihres Erbes verprasst, und jetzt müsse er dafür zahlen. Der Bulle schien sehr zufrieden mit dem gewesen zu sein, was Kevin ihm über den Sohn der Ermordeten berichtet hatte.
Es war also offensichtlich, dass Sausele nun verdächtigt wurde, den Mord an seiner Mutter in Auftrag gegeben zu haben. Wer aber der eigentliche Mörder war, wer sich nachts ins Heim geschlichen und Frau Sausele brutal mit einem Kissen erstickt haben sollte, darauf fanden die beiden keine plausible Antwort. Es musste ja jemand gewesen sein, der sich auskannte. Locke? Nach dem hatten sich die Bullen ja auch erkundigt, und nach der Sache mit der geklauten Ampulle – Kevin war sich sicher, dass sie Locke genommen haben musste –,
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