Grauen im Grand Hotel
auf einer von Tannen und Lärchen bewachsenen Anhöhe lag und sein Turm über die Baumwipfel stolz hinausragte. Er war geschmückt mit der Schweizer Fahne, die im leichten Westwind flatterte, als wollte sie die Gäste anlocken. Ein wunderschöner Ort nahm ihn auf.
Kein Gedanke an irgendwelche Betonsilos, in die Touristen hineingepfercht wurden, diese Häuser hier zeigten die typische Bauweise des Engadin und hatten den rätoromanischen Einschlag, was sich auch an den zahlreichen Bemalungen der Wände widerspiegelte, an den schmalen, oft lukenhaften Fenstern und dem hellen Mauerwerk. Herbstblumen quollen aus Kästen und Kübeln, im Ort herrschte so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Das mochte an den Touristen liegen, die durch Sils-Maria flanierten oder es sich in den Gärten und Terrassen bequem gemacht hatten, um etwas zu essen oder einen Schluck zu nehmen. Aus der Ferne grüßten die Bergspitzen des Piz Palü, des Piz Nair oder des Piz Corvatsch. Die Gletscher der Bernina-Kette funkelten, als hätte man sie mit Diamanten bestreut, und Wladimir Golenkow vergaß, weshalb er nach Sils-Maria gekommen war.
Brutal wurde er wieder daran erinnert.
Er befand sich im Mittelpunkt des Ortes, wo auch die Post war und die Busse hielten, als er die drei Männer sah, die aus einem kleinen Lokal traten.
Der eine davon war Dr. Satorius!
Er war nicht zu übersehen, denn so etwas wie ihn gab es nur einmal. Trotz des wunderbaren Wetters hatte er auf seinen dunklen Mantel nicht verzichtet, der beim Gehen wie eine Glocke um seine Gestalt schwang. Er war nicht allein.
Zwei Männer begleiteten ihn. Sie trugen dicke Lederjacken und Pudelmützen.
Satorius war stehengeblieben und redete mit den beiden Leuten. Sie schauten ihn fast gläubig an, lauschten seinen Worten. Wladimir Golenkow schreckte zusammen, als er hinter sich das Hupsignal hörte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er gestoppt und den Verkehr aufgehalten hatte.
Rasch fuhr er weiter und fand auch nicht weit entfernt einen Parkplatz. Sofort stieg er aus.
Die drei Männer standen noch immer vor der Post. Sie wirkten wie unschlüssige Personen, die noch nicht herausgefunden hatten, was sie in den folgenden Stunden unternehmen sollten.
Das kam dem Russen sehr gelegen.
Er wollte von Beginn an Nägel mit Köpfen machen, damit dieser Satorius wußte, woran er war.
Sie kannten sich, sie waren keine Freunde, denn Wladimir haßte Typen wie diesen Kerl, der seinen Fahne immer nur in bestimmte Windrichtungen drehte.
Er würde ihm die entsprechenden Fragen stellen und war gespannt, wie Satorius darauf reagierte.
Wladimir ließ einen Geländewagen passieren und überquerte die Fahrbahn. Auf dem Platz vor der Post blieb er stehen, allerdings im Rücken der drei Männer.
Sie hatten ihn nicht gesehen, unterhielten sich weiter, so daß sich Wladimir an sie heranschleichen konnte. Leider war es zu laut, um verstehen zu können, was sie sagten. Er jedoch wurde von ihnen gehört, als er sie ansprach.
»Machen Sie hier Urlaub, Satorius?«
Nicht der Angesprochene fuhr herum, sondern seine beiden Leibwächter. Sie glotzten den Sprecher an, der schnell eine zweite Frage stellte. »Oder wollen sie nur das Nietzsche-Haus besichtigen, da ja auch Sie sich als eine Art Psychologe bezeichnen?«
Jetzt drehte sich auch Satorius um, und der Russe konnte erkennen, daß der Psychologe sich seit ihrem letzten Zusammentreffen so gut wie nicht verändert hatte.
Sein Gesicht zeigte stets einen verkniffenen Ausdruck, wenigstens um den Mund herum. Weiter oben, etwa in Höhe der Wangen, zeigte es genau das Gegenteil. Da wirkte es sanft, richtig nett, und die Augen flößten Vertrauen ein. Er trug sein blondes Haar sehr lang zurückgekämmt. Nachdem er die Überraschung verdaut hatte, löste sich auch der verkniffene Zug um seinen Mund. Er schob die Lippen vor und spitzte sie. Dabei schnalzte er mit der Zunge, als würde vor ihm ein besonders leckeres Essen stehen.
»Sieh an, ein Freund aus alten Tagen.«
»Meinen Sie das wirklich, Satorius?«
Er hob die Schultern. »Keine Ahnung, Golenkow.« Er lächelte und legte einen Finger gegen sein Kinn. »Lassen Sie mich nachdenken, weshalb ich Sie hier treffe.«
»Das ist einfach.«
»Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen die Entwicklung in Ihrem Land nicht in den Kram gepaßt hat. Der KGB ist out, Demokratie ist in, und dafür hat Ihre Organisation ja noch nie gestanden. Sie sind also unterwegs, um sich eine neue
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