Grauen im Grand Hotel
Heimat zu suchen. Sie sind auf der Flucht, und sie haben sich ein Land ausgesucht, das von vielen Flüchtlingen bevorzugt wird, aber meist aus steuerlichen Gründen.«
»Sie reden Unsinn.«
»Ach ja?«
»Sicher. Ich kann Ihnen sagen, weshalb ich hier bin.« Wladimir wollte gleich zum Kern vorstoßen. »Ich bin Ihretwegen nach Sils-Maria gekommen, Satorius.«
»Nein.«
»Doch.« Der Russe behielt seine kalte Freundlichkeit bei. »Nur Ihretwegen, bitte sehr.«
»Zuviel der Ehre. Wenn Sie mich hätten treffen wollen, hätten Sie nicht eine derart weite Reise zu unternehmen brauchen. Wir hätten telefonisch einen Ort und einen Termin vereinbaren können, der uns beiden entgegengekommen wäre.«
»Das ist nicht allein der Grund«, sagte Wladimir.
»Welchen gibt es noch?«
»Ich will Ihnen das Handwerk legen, Satorius. Ich will Antworten auf bestimmte Fragen, verstehen Sie?«
»Nein. Werden Sie deutlicher.«
»Gern. Ich mag es nicht, wenn sich Menschen praktisch verabschieden, um hier in Sils-Maria in den Tod zu gehen, von dem sie glauben, ein besseres Leben zu bekommen, obwohl dies mehr als paradox ist. Wissen Sie nun Bescheid?«
Satorius wußte es. Er schaute den Russen mit einem bestimmten Blick an. Andere wären darunter zusammengezuckt, denn über seine Pupillen hatte sich ein Eisfilm gelegt. »Ich will Ihnen etwas sagen, Golenkow. Verschwinden Sie aus Sils-Maria. Verschwinden Sie so schnell wie möglich. Kommen Sie mir nie mehr unter die Augen!«
Wladimir lächelte ihn an. »Das ist schlecht möglich. Ich habe bereits im Grand Hotel gebucht. Und glauben Sie nicht, daß ich vor Ihren beiden Wachhunden Angst hätte. Diese Kettenköter verspeise ich normalerweise zum Frühstück.«
Satorius gab keine Antwort. Er schüttelte nur leicht den Kopf. Dann drehte er sich um und ging.
Seine Kettenhunde auf zwei Beinen folgten ihm. Sie allerdings schauten noch einmal zurück.
Wenn Blicke töten könnten, wäre Wladimir Golenkow nicht mehr am Leben, so brutal schauten sie ihn an.
Er aber ging zurück zu seinem Wagen. Und plötzlich kam ihm Sils-Maria gar nicht mehr so nett vor…
***
Es war der Hotelbesitzer, Herr Kirchner, der den neuen Gast mit einem Händedruck und einem strahlenden Lächeln begrüßte und sich danach erkundigte, ob er eine gute Reise gehabt hätte. »Ja, das hatte ich.«
»Dann darf ich Sie jetzt bitten, die Anmeldung auszufüllen. Danach wird man Ihnen Ihr Zimmer zeigen und das Gepäck hochschaffen. Wir werden uns noch öfter sehen, und ich darf Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns wünschen.«
»Danke sehr, das werde ich bestimmt haben.« Wladimir konnte gut lügen, denn dieser Satorius war ihm nach wie vor nicht aus dem Sinn gegangen.
Bevor der dunkelhaarige und sonnenbraune Reto Kirchner sich zurückziehen konnte, hielt ihn der Ruf des neuen Gastes auf. »Einen Moment bitte noch, Herr Kirchner.«
»Ja…?« Er kam wieder näher.
»Ich hätte da eine Frage.«
»Gern.«
»Es geht um einen Bekannten, der hier in Sils-Maria wohnen soll. Vielleicht kennen Sie ihn.«
»Das kann schon sein. Wie heißt er denn?«
»Dr. Satorius.« Wladimir hatte den Hotelbesitzer bei seiner Antwort nicht aus den Augen gelassen, doch in seiner Reaktion nichts gesehen, was seinen Verdacht erregt hätte. Im Gegenteil, er lächelte ihm sogar offen und ehrlich zu.
»Den Doktor kenne ich in der Tat.«
»Das ist gut. Wo wohnt er?«
»Bei uns.«
Wladimir schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht richtig fassen. »Wie meinen Sie?«
»Er lebt in einem kleinen Haus, das auf unserem Grundstück steht und zum Hotel gehört. Wir vermieten es…«
»Ahhh — so ist das.« Wladimir räusperte sich. »Führt er denn auch seine Seminare durch?«
»Sie denken an die Behandlungen?«
»Das ist besser — ja.«
Kirchner nickte. »In der Tat führt er sie durch. Schon seit zwei Jahren. Und immer im Sommer. Seine Patienten wohnen bei uns.« Er lächelte gequält. »Der Ausdruck Patienten gefällt mir nicht. Es sind Gäste, und zwar internationale.«
»Ja, das ist mir bekannt.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Golenkow?«
»Nein, danke, das war schon sehr viel. Ich bin beeindruckt, Herr Kirchner«
»Oh — vielen Dank.«
Ein junger Hotelangestellter stand bereit, der sich um den Koffer der Russen kümmerte. Wladimir dachte daran, daß er waffenlos in die Schweiz geflogen war: Er wollte sich allerdings so schnell wie möglich eine Pistole oder einen Revolver besorgen, denn wahrscheinlich konnten
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