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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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Jahres. Er ertappte sich dabei, wie er ihr immer wieder einen schnellen Seitenblick zuwarf.
Murphy rührte langsam mit einem Holzlöffel im Topf. Draußen heulte der Wind um den Dachfirst. Das einzige Geräusch dieser Welt.
»Du hast noch nicht viel erzählt, seit du hier bist.«
Darylls Blick ruckte von Demi zu dem alten Mann.
»Was ist in Devon?«
»Nichts.«
Das Wort kam so schnell über seine Lippen, dass Daryll sich einen Moment fragte, ob das wirklich seine Stimme gewesen war.
Murphy nickte bloß und rührte weiter.
Daryll betrachtete den alten Mann, dessen Gesicht im Schein der Petroleumlampe und Kerzen ledern und von tiefen Furchen durchzogen wirkte. Er hatte sich früher immer gefürchtet, wenn er die Zeitung zu dem kleinen Laden brachte. Auch wenn er an heißen Tagen bei Murphy immer eine kalte Limonade bekam, so waren ihre Unterhaltungen meist auf ein Minimum begrenzt gewesen. Daryll hatte den Mann auf eine ganz spezielle Weise gemocht, da er ihm stets wie ein alter Einsiedler erschienen war, der in den Hügeln lebte, um vor dem Rest der Menschheit seine Ruhe zu haben.
Sein Vater hatte den alten Mann oft als ›merkwürdigen, senilen Alten‹ bezeichnet. Doch als er ihn jetzt beobachtete, wie er mit seinen steinernen Gesichtszügen das Fleisch im Topf umrührte und sich um die Enkelin seines alten Freundes kümmerte, überlegte Daryll, ob man wirklich die Schrecken der Apokalypse benötigte, um das Leben plötzlich mit anderen Augen betrachten zu können.
Er hatte in den letzten Tagen viel über sich gelernt. Vor allen Dingen Mary Jane hatte ihn dazu gebracht, innere Barrieren niederzureißen und einen neuen Menschen in sich selbst zu entdecken. Er sah die Welt jetzt mit klarem Blick und einem Verstand, der den ganzen Umfang der Katastrophe zwar noch immer nicht erfassen konnte, der jedoch schärfer geworden war und sich auf das Überleben konzentrierte. Murphy hatte seine Bedrohlichkeit verloren. Er war ein alter Mann, der wie ein Schatten seiner selbst vor ihm saß, sich um ihn und Demi kümmerte und die Tragweite der neuen Welt selbst nicht begreifen konnte. Seit einigen Tagen hatte sich nicht nur die Welt verändert. Auch die wenigen Menschen, die es noch gab, waren andere geworden. Zumindest sah Daryll sie mit anderen Augen.
»Ich war in Devon mit einem Mädchen zusammen«, flüsterte er so leise, dass er kaum das Heulen des Windes vor dem Haus übertönen konnte. Murphy blickte auf, sagte jedoch nichts.
»Ihr Name war Mary Jane. Wir hatten uns in der Schule verbarrikadiert.« Darylls Kehle verengte sich so sehr, dass ihm das Schlucken schwer fiel. Sein Magen verwandelte sich in eine Grube aus Eis.
»Wir hatten beide gehofft, dass wir bald aus diesem Alptraum aufwachen. Wir wollten die ganze Sache einfach aussitzen und darauf warten, dass alles wieder normal wird.«
Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht. Murphy antworte ihm mit einem schiefen Grinsen.
»Aber dann wurde sie gebissen. Auf dem Parkplatz vor ›Tenberries‹. Von einer dieser Kreaturen. Wir hörten nicht, wie sie sich an uns heranschlich.« Darylls Lippen begannen zu zittern. Seine Augen wurden feucht. Er ließ den Kopf nach unten hängen, damit niemand seine Tränen sehen konnte. »Wir haben es zurück zur Schule geschafft. Dort habe ich ihre Wunden verbunden.« Seine Hand suchte ihren Weg zu seinem Hals. »Ich habe ihr zu essen gegeben, aber sie aß nichts. Deshalb habe ich ihr vorgelesen und sie im Arm gehalten. Aber sie wurde immer schwächer. Ihre Haut war blass und ihre Wunden entzündeten sich. Sie wurden schwarz an den Rändern. Und dann, eines Morgens …« Daryll rieb sich die Augen, als wollte er gegen die Müdigkeit ankämpfen. Doch in Wirklichkeit wischte er die brennenden Tränen fort. »Eines Morgens war sie verschwunden. Ich wachte auf und Mary Jane war fort.«
Murphy räusperte sich. Er lehnte sich über den Tisch und legte Daryll eine fleckige, im Schein der Lampe braun glänzende Hand auf den Arm. »Du musst nicht darüber reden«, sagte er mit trauriger Stimme. »Im Moment ist es besser, wenn wir einige Dinge in uns begraben und erst später um sie trauern.«
Daryll nickte. Er wollte seine Geschichte fortführen, wollte von Mary Jane erzählen, weil er spürte, dass es ihm gut tat und er es ihr schuldig war. Doch seine Lippen bewegten sich, ohne dass ein weiteres Wort aus seinem Mund kam.
Murphy rührte wieder in dem Topf. Der Geruch von gekochtem Fleisch hing in der Luft. Plötzlich war es wieder still

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