Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Darunter gerahmte Fotos, die scheinbar Murphys Familie zeigten. Daryll konnte sich nicht daran erinnern, dass Murphy jemals eine Frau gehabt hätte. Für ihn war er immer nur ›Mr. Murphy‹ gewesen, der wortkarge, etwas seltsame Einsiedler in den Hügeln.
Er trat nahe an eines der Fotos heran und erkannte neben einem grobschlächtigen Mann, der eindeutig Murphy war, eine zierliche Frau mit schulterlangem Haar und offenem Lächeln, sowie einen Jungen in Darylls Alter. Der Junge stand zwischen seinen Eltern, überragte beide allerdings um einige Zentimeter. Alle drei hatten die Arme um die Taille des jeweils anderen geschlungen.
Ein Foto aus glücklichen Tagen, schoss es Daryll schmerzhaft durch den Kopf. Gleichzeitig spürte er eine tiefe Scham darüber, dass er so ungeniert das Foto betrachtete. Es mussten wertvolle Schätze für den alten Mann sein, der Daryll plötzlich in einem völlig anderen Licht erschien. Vielleicht war er nur zu dem mürrischen Mann geworden, weil seine Familie nicht mehr bei ihm war.
Er dachte dabei an Mary Jane, die in den letzten Tagen seine neue Familie gewesen war. Und er dachte an den Schmerz, den ihr Verschwinden in ihm hinterlassen hatte. Wie würde er selbst einmal in dieser Welt werden, in der es nichts mehr gab, an das er sich klammern konnte? Er versuchte sich selbst in Murphys Alter vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde es keinen Daryll in Murphys Alter geben.
Er trat von dem Foto zurück und wollte einige passende Worte darüber zu dem alten Mann sagen, als ihm eine unscheinbare Bewegung in der Zimmerecke auffiel. Murphy saß an einem schlichten Holztisch und war gerade damit beschäftigt, eine Dose Bohnen zu öffnen. Er muss ebenfalls die Bewegung bemerkt haben, denn er stand auf, stellte die Dose auf den Tisch und griff stattdessen zu einer mit Wasser gefüllten Schüssel mit einem Tuch darin.
Aus der Zimmerecke, wo das Licht der Kerzen nicht hinfiel, drang ein leises Stöhnen. Daryll war versucht, nach seiner Waffe zu greifen. Doch im letzten Moment entsann er sich eines besseren und beobachtete Murphy, der eine Petroleumlampe entzündete und diese auf einen kleinen, runden Tisch stellte.
Im Schein der Lampe erschien ein Bett, bestückt mit mehreren Wolldecken. Und diese Decken bewegten sich, als sich der alte Mann auf die Bettkante setzte und die Schüssel neben die Lampe auf den Tisch stellte.
Daryll hörte ihn einige leise Worte murmeln, die er nicht verstehen konnte. Vorsichtig trat er näher und blickte Murphy über die Schulter. Im ersten Moment konnte er nicht glauben, was er sah, doch auch der alte Mann war für ihn in dieser leeren und stillen Welt zunächst ein ungewohnter Anblick gewesen. Deshalb gewann er schnell wieder die Kontrolle und betrachtete das Mädchen als weiteren Mosaikstein seines neuen Lebens.
Sie schien in seinem Alter zu sein, sah jedoch fürchterlich aus. Ihre Haut war grau und spannte sich wie ein dünnes Tuch über die Wangenknochen. Um ihre Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Als sie Daryll sah, weiteten sich ihre Augen. Ein unartikuliertes Krächzen stieg wie Sand aus ihrer Kehle empor.
Murphy blickte kurz über seine Schulter. Dann widmete er sich wieder dem Mädchen. Er tupfte ihre Stirn ab, auf deren Haut Schweiß glänzte. Dann strich er ihr das zerzauste Haar aus dem Gesicht, so dass es sich wie eine erloschene Korona um ihren Kopf auf den Kissen ausbreitete.
»Ist sie …?«
Daryll hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen.
»Nein«, antwortete Murphy schlicht, wrang den Lappen aus und wusch das Gesicht des Mädchens.
Daryll betrachtete die ausgemergelte Gestalt und spürte eine Welle aus Scham und Mitleid über sich brechen. Das Mädchen kam ihm bekannt vor, doch er konnte sich nicht entsinnen, woher. Vielleicht erschien ihm in einer entvölkerten Welt jedes fremde Gesicht vertraut.
»Was ist mit ihr?«
Diesmal schaffte er es, seiner Stimme zumindest einen zitternden Klang zu verleihen. Irgendwo im Haus knarrten die Dachbalken unter der erdrückenden Stille.
»Sie ist verletzt worden.«
»Von den Monstern?«
Murphy warf Daryll einen kurzen Blick über die Schulter zu und betrachtete den Jungen skeptisch. Daryll glaubte ein Erkennen im Blick des Alten zu sehen.
»Du hast sie also auch gesehen?«
Der Junge nickte und spürte im gleichen Augenblick, wie sich sein Magen in einen schweren Eisblock verwandelte. In seiner Erinnerung blitzten die Bilder aus Devon auf und verloren sich dann wieder in
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