Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
der Dunkelheit seines Unterbewusstseins. Der Parkplatz vor ›Tenberries‹, das Ding in der Scheibe der Eingangstür, das gierige Heulen, das ihn zeit seines Lebens verfolgen würde.
Er nickte bloß, konnte jedoch nichts auf Murphys Frage erwidern.
»Sie scheinen überall zu sein«, murmelte der alte Mann, legte das Tuch in die Schüssel und betrachtete das Gesicht des Mädchens. Die Haut wirkte im Schein der Lampe immer noch so grau wie der Himmel.
»Sie verändern sich, wenn sie gebissen werden«, flüsterte Daryll schließlich.
Murphy stand auf, reduzierte die Flamme der Petroleumlampe zu einem matten Flackern und ließ das Mädchen wieder in den Schatten verschwinden. Dann legte er seinen Arm um Darylls Schulter und führte ihn in die Mitte des Zimmers zurück, wo er sich wieder mit der Dose Bohnen beschäftigte.
»Sie ist nicht gebissen worden. Ich habe sie untersucht. Sie ist lediglich verletzt.«
Daryll setzte sich auf einen schäbigen Sessel, dessen Farbe irgendwann einmal rot gewesen sein musste. Er zog die Knie an seinen Körper und spürte zum ersten Mal die Kälte, die in dem Zimmer herrschte.
»Was hat sie verletzt?«
Murphy blickte auf und warf ihm einen unergründlichen Blick zu. Daryll glaubte darin eine Mischung aus Trauer, Wut und Scham zu erkennen.
Der Alte kippte die Bohnen in einen Topf, zündete mit einem Streichholz einen kleinen Gasbrenner an und stellte den Topf darauf. Dann sank er in seinem Sessel zusammen, als wäre ihm in diesem Moment sämtliches Leben ausgesaugt worden. Seine Finger spielten nervös miteinander, während er mit leerem Blick vor sich hinstarrte.
»Wer ist sie?« unterbrach Daryll leise das Schweigen. Doch noch ehe Murphy ihm antworten konnte, wusste er plötzlich, woher er das Mädchen in der Zimmerecke kannte.
»Ihr Name ist Demi«, flüsterte Murphy kaum hörbar. »Sie ist die Enkelin von meinem Freund Harvey.«
VI
Am Abend stellten sie die Sessel vor das Bett des Mädchens. Murphy rührte in seinem Topf, in dem er diesmal Büchsenfleisch und etwas Gemüse erwärmte. Ein lange entbehrter Geruch erfüllte den Raum, in dem es sonst nach verbrauchter Luft und Schweiß roch. Daryll saß mit überschlagenen Beinen auf dem Sessel und betrachtete das bleiche Oval von Demis Gesicht. Es schien ihr etwas besser zu gehen, nachdem Murphy am Nachmittag die Wunden gesäubert und neu verbunden hatte und Demi mehrmals von einem Müsliriegel abbeißen ließ. Die erwärmten Bohnen vom Nachmittag rührte Demi nicht an.
Die tiefen Wunden an den Armen und am Brustkorb des Mädchens vermittelten Daryll den Eindruck, dass sie viel Blut verloren haben musste. Die Ränder waren schwarz, als hätten sich in ihrem Leib tiefe Gräben aufgetan. Die graue Haut um die Verletzungen war entzündet und schmerzte, als Murphy sie mit dem feuchten Tuch berührte. Daryll musste sich abwenden, als der alte Mann neue Verbände anlegte, die sich sofort wieder dunkel verfärbten. Seine Gedanken wanderten ungewollt zu Mary Jane. Doch Demis Körper zeigte keine Bissspuren. Ihr Hals und die Schultern waren unversehrt.
Daryll konnte sich an das Mädchen erinnern. Vor etwa eineinhalb Jahren, im Sommer, war sie zu Besuch bei den Jennings gewesen, als er die Zeitung vorbeibrachte. An einem der Tage hatte Demi die Zeitung am Zaun entgegengenommen und ihm mit einem kecken Lächeln den obligatorischen Dollar in die Hand gedrückt, den Daryll immer von dem alten Harvey Jennings bekam. Er erinnerte sich noch gut an dieses Lächeln, das ihn die darauffolgenden Nächte kaum Schlaf finden ließ. Damals hatte er Demi als überaus hübsch empfunden. Ihre Augen glänzten, und ihr Lächeln wirkte halb spöttisch und halb liebevoll.
Er fand das Mädchen immer noch hübsch. Doch über ihr Aussehen hatte sich das graue Tuch des Weltuntergangs gelegt. Sie sah älter aus, als sie war, und ihr Körper schien dem Tod näher als dem Leben.
Daryll wusste, dass Demi ein Jahr jünger war als er. Er hatte den alten Jennings nach mehreren vergeblichen Anläufen mit hochrotem Kopf danach gefragt. Er wusste auch, dass sie mit ihren Eltern in Boston lebte und hin und wieder die Ferienzeit bei ihren Großeltern verbrachte. Doch nach diesem einen Sommer hatte er Demi nicht wieder gesehen.
Das Mädchen, das jetzt in Wolldecken gehüllt im Bett saß und den Blick auf den Topf mit kochendem Fleisch richtete, war nicht das Mädchen von damals. Und doch spürte Daryll die gleiche Wärme und die gleiche Ungeduld in sich, wie im Sommer des letzten
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