Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
die wenigen Personen, die ihnen bisher vorgestellt worden waren. Die Menschen in Mayfield schienen ihr Los akzeptiert zu haben und arbeiteten als Gemeinschaft zusammen, um ihre kleine Enklave am Leben zu erhalten.
Was diese Leute in der kurzen Zeit seit Ausbruch der Katastrophe geschafft hatten, beeindruckte Wulf. Es war keineswegs der ganze Ort mit dem Betonwall umgeben, wie er zuerst annahm. Lediglich zwei Straßen, die zum eigentlichen Zentrum der kleinen Stadt führten, waren von Stevenson und seinen Männern gesäubert und durch Betonwände, die sie vom Freeway und der Küste mit dem Tieflader nach Mayfield geschafft hatten, vom Rest der Welt abgeschottet worden.
Joshua hatte sich bewusst für diese beiden Straßenzüge entschieden, denn sie beinhalteten fast alles, was man zum Überleben benötigte und waren dennoch überschaubar und leicht zu verteidigen. Direkt neben dem Hotel, in dem einige Mitglieder der Gemeinde eine neue Heimat gefunden hatten, lagen ein Supermarkt, ein Drugstore, eine Schule und eine kleine Arztpraxis, die Shoemaker allerdings nicht verwenden wollte. Es hätte etwas mit Pietät seinem unbekannten Kollegen gegenüber zu tun, flüsterte er Wulf zu, als dieser ihn darauf ansprach.
Die beiden Straßen waren vollständig durch die Betonplatten und engmaschige Stahlzäune vom Rest der Stadt abgeschottet worden. Die Menschen hatten sich hier in Mayfield eine kleine Zuflucht inmitten der Hölle geschaffen.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, lehnten sie sich auf ihren Stühlen zurück und sahen sich gegenseitig an. Daryll war der erste, der zu lachen begann, als er Murphy auf einen Soßenfleck an der Wange hinwies. Der alte Mann wischte ihn mit der Hand weg, betrachtete theatralisch seine Finger und steckte sie schließlich unter lautem Schmatzen in den Mund. Das war der Moment, der nötig gewesen war, um eine eiserne Fessel zu sprengen, die sie alle seit ihrem Aufbruch aus Murphys Hütte beengt hatte. Eine kleine, kindliche Situation, doch sie half allen dabei, sich endlich wieder wie Menschen zu fühlen und sich der Sicherheit hinzugeben, die ihnen die kleine Enklave versprach.
Während Wulf die lachenden Gesichter betrachtete, spürte er eine tiefe Zuneigung zu seiner kleinen Gruppe. Vor allem Daryll und Demi, deren Wangen rot angelaufen waren, erzeugten ein gutes und warmes Gefühl in ihm. Während ihrer Reise hatte es mehr als einmal Minuten gegeben, in denen Wulf den Sinn ihres Bestrebens nach Leben anzweifelte. Es waren jene Momente gewesen, in denen ihn die Furcht und die Erinnerungen an sein altes Leben gleichermaßen marterten.
Doch jetzt, als er Murphy und die Kinder in einer derart gelösten Stimmung – gesättigt und in Sicherheit – vor sich sitzen sah, wusste er, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Ihre Fahrt von den Hügeln nach Kagan´s Creek, zu jenen Fremden in dem kleinen Ort und weiter nach Stonington war von etwas geleitet worden, das Wulf nicht unbedingt als ›Gott‹ bezeichnen wollte, was dem aber verdammt nahe kam. Etwas hatte sie nach Mayfield geführt. Und dieses Etwas war im Begriff, einen neuen Namen zu erlangen. Vielleicht würden sie dieses Etwas eines Tages sogar ›Gott‹ nennen.
Joshua hatte sie gebeten, nach ihrer Mahlzeit im Zimmer zu warten. Deshalb stand Wulf auf, ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Nur wenige Sekunden später gesellte sich Daryll zu ihm.
Wulf bekam das Gefühl, einen Blick in die Vergangenheit werfen zu dürfen. Vor dem Haus gegenüber, einem flachen Bau aus roten Klinkersteinen, standen zwei Frauen und unterhielten sich. Sie hätten Freundinnen sein können, die sich über ihre Arbeit im Büro unterhielten und kein gerades Haar an ihrem Chef ließen. Oder zwei Hausfrauen, die sich über die Unzulänglichkeiten ihrer Ehemänner beschwerten. Dinge, über die Frauen eben lästerten, wenn sie unter sich waren.
In einer anderen Stadt, zu einer anderen Zeit, hätte man diese Frauen nicht weiter beachtet. Doch hier vor dem Hotel in Mayfield waren sie der lebendige Beweis dafür, dass ihre Welt, so bizarr sie auch geworden sein mochte, noch lange nicht untergegangen war. Die beiden Frauen zeugten von Leben und Hoffnung, er sah keine Furcht in ihren Gesichtern und hörte keine Schreie in Todesangst. Einfach zwei Menschen, die dem Schrecken der neuen Welt trotzten.
»Es ist schön hier«, sagte Daryll plötzlich und beugte sich nach vorn, um weiter die Straße hinabblicken zu können. »Denkst du, dass es noch
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