Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
schüttelte den Kopf wie ein kleiner Junge, der von seinem Lehrer dabei erwischt worden war, dass er eine einfache Aufgabe nicht lösen konnte.
»Wo hast du denn gelebt? In einer Höhle?«
Demi betrachtete das Mädchen.
»Sie sieht aus wie Meg«, wiederholte sie.
Von dem Zeitpunkt an hieß das Mädchen Meg.
Gab man dem Fremden einen Namen, verlor es viel von seinem Schrecken.
II
Sie verließen den Freeway an einer Ausfahrt, auf deren Schild ›Mayfield‹ stand. Über den Schriftzug war mit der gleichen blauen Farbe wie auf der Straße ›Leben‹ gemalt.
Das Meer verschwand schnell hinter dem Wall des Freeways und nahm den salzigen Duft von Beständigkeit und Freiheit mit sich. Zurück blieb eine bittere Leere, die keinerlei Gehalt zu besitzen schien. Erst allmählich kroch schleichend der vertraute Geruch von Fäulnis durch die geöffneten Fenster des Busses und der erstickende, aschefarbene Dunst legte sich erneut wie eine wärmende Decke über die Welt, als hätte er die Überlebenden die ganze Zeit über lauernd beobachtet, um sie wieder in seinem dumpfen Schoß willkommen zu heißen.
Mayfield lag ausgedehnt inmitten weiter Felder. Eine Ansammlung von Häusern und Scheunen, Kirchturmspitzen und dem modernen Skelett eines Funkmastes, der einem Mahnmal erloschener Zeiten gleich ins graue Zwielicht des Tages stach. Um die Stadt herum zog sich, wie bei einer mittelalterlichen Burg, ein Wall aus hohen Betonplatten. Die Straße führte geradewegs auf ein hölzernes Tor zu, das in diesen steinernen Fried eingelassen war.
Wulf hielt den Bus am Straßenrand an und betrachtete Mayfield mit einer Mischung aus Skepsis und Hoffnung. Der Ort schien das zu halten, worauf die auf die Straße gemalten Botschaften hingewiesen hatten. Über der Stadt stiegen dünne, weiße Rauchfahnen auf, die sich kräuselten und in den tiefhängenden Wolken verschwanden. Auf einem Acker außerhalb der Schutzmauer bewegten sich einige Gestalten.
Was in Wulf jedoch eine lähmende Furcht erzeugte, waren einige Fahrzeuge, die vor dem Betonwall und dem Tor positioniert waren. Er erkannte zwei Humvees mit Geschütztürmen, die das Tor flankierten, sowie einige Pritschenwagen und zwei Tieflader, die direkt am Betonwall standen. Etwas weiter entfernt, mitten auf einem Acker, stand ein Helikopter.
»Das ist eine Festung«, murmelte er und starrte angestrengt durch die dreckige Windschutzscheibe. Murphy war neben ihn getreten, hielt sich an einer der Haltestangen fest und betrachtete aus zusammengekniffenen Augen die merkwürdige Szenerie.
»Sollen wir es wagen?«
Wulf ging in Gedanken die Möglichkeiten durch, die ihnen blieben. Sie waren aufgebrochen, um andere Überlebende und Hilfe zu finden. Die Botschaften an den Mauern der Militärbasis und auf dem Freeway hatten sie geradewegs nach Mayfield geführt. Wie es schien, waren einige Angehörige des Militärs in diese Stadt geflüchtet, nachdem sie ihren Stützpunkt aus unerfindlichen Gründen aufgeben mussten.
Die Möglichkeit, umzukehren, bestand natürlich. Doch wo sollten sie hin? Die Stadt war ihr Ziel gewesen, ihr Licht am Ende des Tunnels, um es in den Worten seines Vaters auszudrücken. Demi war krank und sie hatten das fremde Mädchen bei sich, deren apathischer Zustand unverändert war. Welche Chancen besaßen sie in einer stillen, verheerten Welt, die zu groß war, um sie jemals verstehen zu können?
In Mayfield gab es Leben und Hilfe, mit Sicherheit auch medizinische Versorgung. Welche Gefahren hinter dem Schutzwall lauerten, konnten sie nicht sagen. Doch Gefahren konnten überall in dieser Welt lauern, wie ihnen Kagan´s Creek deutlich vor Augen geführt hatte. Vielleicht war es die bessere Alternative, sich menschlichen Gefahren auszusetzen, als jenen, die ihnen von Seiten der Kreaturen in unbewohnten Häusern drohten.
»Wir werden nach Mayfield fahren«, verkündete Wulf und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. Murphy sah ihn unentschlossen an, Daryll nickte stumm, während Demi auf ihre Hände starrte. Meg erwiderte Wulfs Blick nicht. Niemand widersprach ihm, somit war die Entscheidung gefallen.
»Haltet eure Waffen bereit«, presste Wulf hervor, während er den Gang einlegte. »Wenn wir angegriffen werden, verteidigen wir uns, so lange wir können.«
Seine Worte hatten etwas Endgültiges an sich und lagen bleischwer in der kühlen Luft. Als sie über die abschüssige Straße nach Mayfield fuhren, bemerkte er, wie die Gestalten auf dem Acker in ihren Bewegungen innehielten
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