Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Decke.
Dem Jungen schien es ähnlich zu ergehen. Sein Atem ging unregelmäßig, er wälzte sich von einer Seite auf die andere und stöhnte manchmal leise und müde. Doch keiner von ihnen sprach den anderen an. Der Schoß der Nacht gehörte jedem allein, mit allen Hoffnungen und Gedanken, die darin geborgen lagen.
Als die Nacht von einem matten, farblosen Zwielicht verdrängt wurde, standen sie auf und verrichteten ihre Morgentoilette. Zum ersten Mal seit Tagen wuschen sie sich mit warmem Wasser und sahen ihr Antlitz im Spiegel.
Wulf erschrak über sein barbarisches Aussehen. Was mochte Ellen von seinem Bart halten, der zu wachsen im Begriff war? Er überlegte, ihn abzurasieren. Doch dann entschied er sich dagegen. Den alten Wulf hatte er zusammen mit Ellen und Mikey im Garten begraben. In dieser neuen Welt, hier in Mayfield, würde es einen neuen Wulf geben, der eine zweite Chance erhalten hatte. Und dieser neue Wulf trug einen Bart.
Sein Gesicht war hager geworden und unter seinen Augen befanden sich dunkle Ränder. Er war in den letzten Tagen gealtert. Doch er war immer noch Wulf, der indianische Held seines Sohnes, und er würde alles tun, um seine neue Familie zu beschützen. Er wollte auf keinen Fall noch einmal versagen.
Wulf sah, dass Daryll lange auf sein Spiegelbild starrte. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel: Die Augen eines Jungen, der innerhalb weniger Tage seine Kindheit hinter sich gelassen hatte, und die eines Mannes, der noch vor drei Wochen ein durchschnittlicher, treusorgender Familienvater mit einem langweiligen Job gewesen war, der sich innerhalb dieser Zeit in einen Comic-Helden verwandelt hatte.
Er lächelte dem Jungen zu. Daryll versuchte zurückzulächeln, doch sein Gesicht glich dem eines weinenden Kindes. Wulf drückte ihn an sich und genoss die Nähe des Jungen.
So standen sie lange Zeit schweigend im Badezimmer.
Wulf und Mikey. Wulf und Daryll – zwei der letzten Überlebenden.
V
Nachdem sie ein Frühstück eingenommen hatten, das ihnen eine junge, auffallend hübsche Frau namens Christine aufs Zimmer brachte und das eines Königs würdig gewesen wäre, trafen sie Joshua am Empfang des Hotels. Aus einem der Zimmer drang leise Musik.
Als Stevenson Darylls erstauntes Gesicht bemerkte, lachte er. »Wir haben einen Generator im Keller des Hauses. Außerdem genügend Batterien, mit denen wir Radios oder CD-Spieler aus dem Supermarkt betreiben können.«
»Das nennt man Leben«, bemerkte Wulf und reichte Joshua die Hand.
»Ich glaube, man weiß solche banalen Dinge wie einen CD-Spieler erst zu schätzen, wenn man alles verloren hat.«
Gemeinsam mit Joshua verließen sie das Hotel und traten auf die Straße hinaus. Der Tag hatte sein übliches, langweiliges graues Kleid angelegt und hing einem erstickenden Tuch gleich über Mayfield. Die Stadt war still. Wo man an jedem anderen Tag den Lärm von Motoren, das Lachen von Kindern und Musik aus offenen Wohnungsfenstern vermuten würde, empfing sie das tiefe Schweigen eines neuen Zeitalters. Und dennoch war Mayfield nicht tot. Es waren Kleinigkeiten, die in Wulf den zarten Keim der Hoffnung stärkten, der seit ihrer Ankunft in dieser Stadt gewachsen war: der Geruch von etwas Süßem, der aus einem offenen Fenster strömte, eine schlichte Bewegung hinter einer zugezogenen Gardine, das Schlagen einer Tür. Was seine Hoffnung jedoch am meisten nährte, waren Dinge, die er nicht sah. Am Straßenrand standen keine verlassenen Autos mit offenen Türen und Blutspuren auf der Motorhaube oder der Windschutzscheibe. Er sah keine offenen Haustüren oder Fenster, aus deren leeren Höhlen eine schmutzige Gardine im Wind flatterte. In den Vorgärten der Häuser lagen keine umgestürzten Fahrräder oder Überreste verkohlter Leichen.
Joshua und seine kleine Gruppe hatten der Stadt zu einem stillen Leben verholfen. Auch wenn man es nicht sehen oder hören konnte, so spürte man es doch aus jeder Ritze einer Tür dringen, aus dem Schornstein eines Daches aufsteigen oder im Duft von süßem Naschwerk aus dem Fenster strömen.
Sie folgten der Straße. Direkt neben dem Hotel befand sich ein riesiger Parkplatz, in dessen Mitte der moderne Bau eines Einkaufszentrums kauerte. Bunte Fahnen hingen an weißen Masten an der gesamten Vorderfront des Gebäudes. Wulf stellte sich vor, wie die Fahnen im Wind wehten und die Stahlseile gegen die weißen Masten schlugen. Ein Geräusch, dem er in der alten Welt keine Beachtung geschenkt hatte,
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