Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
andere Orte wie diesen auf der Welt gibt?«
Wulf legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Da bin ich mir ganz sicher«, antwortete er und wunderte sich gleichzeitig über seine eigenen Worte. Es war noch nicht lange her, da glaubte er, dass seine kleine Gruppe die letzten Menschen auf diesem Planeten waren.
»Ich denke, es ist den Menschen angeboren, zu überleben.« Sein Blick suchte unwillkürlich die beiden Frauen. »Wir wurden immer wieder schweren Prüfungen unterzogen. Im Mittelalter wüteten die Pest und die Blattern, es gab Kriege und Naturkatastrophen. Und es gab diese feigen und unmenschlichen Anschläge auf der ganzen Welt, die irgendwelche Viren freigesetzt haben. Und trotzdem haben einige – haben WIR – überlebt.«
Wulf fand keine Erklärung dafür, warum einige wenige Menschen nicht an der Seuche gestorben waren. Genauso wenig war er sich sicher, ob es sich wirklich um Viren handelte, mit denen Terroristen zeitgleich in vielen Großstädten der Welt fürchterliche Attentate verursacht hatten. Doch im Moment waren Erklärungen nicht wichtig. Die Folgen der Anschläge waren offensichtlich. Es gab keinen Anlass, sich darüber Gedanken zu machen. Vielmehr galt es, ihre neue Chance, die ihnen zuteil geworden war, zu nutzen und eventuell eine neue Zivilisation aufzubauen.
Es klopfte an der Tür und im nächsten Moment betrat Dr. Shoemaker das Zimmer.
»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Mahlzeit genossen.«
Er reichte Wulf die Hand und zerzauste Daryll die Haare.
»Wir wissen gar nicht, wie wir Ihnen je dafür danken sollen.« Wulf nickte in Richtung der leeren Teller, doch Shoemaker wedelte mit der Hand durch die Luft und setzte sich auf einen der Stühle.
»Das ist selbstverständlich, Jim«, erwiderte er und betrachtete Demi, die sich auf eines der beiden Betten gelegt hatte und im Begriff war einzuschlafen. »Wir haben alle eine harte Zeit hinter uns und wissen, was Entbehrungen bedeuten.«
Sein Blick blieb auf dem Mädchen ruhen. »Sie hat auch gut gegessen«, stellte er fest und lächelte, wie es ein liebender Großvater tun würde. Wulf wusste, dass Demis richtiger Großvater, Murphys Freund, seine kleine Enkeltochter mit dem gleichen Lächeln bedacht hätte. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.
»Es wird ihr gut tun, wenn sie regelmäßige Nahrung und etwas Ruhe bekommt«, fuhr Shoemaker mit leiser Stimme fort, ehe er sich wieder an Wulf wandte. »Setzen Sie sich, Jim. Warum ich eigentlich hier bin …« Die Miene des Doktors verfinsterte sich. »Ich habe dieses Mädchen, Meg, wie Sie es nennen, untersucht …«
Wulf setzte sich zwischen Shoemaker und Murphy, der den Worten des Doktors bislang schweigend gefolgt war, an den Tisch.
»Ich kann sie nicht recht einordnen. Wissen Sie, normalerweise verfügt man als Arzt über eine gewisse Vorgeschichte des Patienten. Man erfährt eventuelle Ursachen für psychische Probleme und weiß, wo man ansetzen muss, um helfen zu können. Aber in diesem Fall …« Shoemaker zuckte hilflos mit den Schultern und blickte von Wulf zu Murphy. »Sie weist Symptome der Katatonie auf, allerdings scheint sich dies ausschließlich auf ihren Geist zu beschränken. Normalerweise geht mit Katatonie ein psychomotorisches Syndrom einher. Das beschreibt eine körperliche Anspannung. Doch davon kann ich bei Meg nichts feststellen. Sie reagiert völlig apathisch und ließ sich von mir willenlos zu einem Behandlungsstuhl und einer Liege führen, ohne die geringste Gegenwehr. Woran sie allerdings leidet, ist Mutismus. Sie muss schreckliche Dinge erlebt haben und zieht sich vollkommen in eine eigene, innere Welt zurück.«
»Mutismus? Doktor, wir haben nicht alle studiert.«
Wulf beugte sich nach vorn und verschränkte die Hände auf der Tischplatte.
»Beharrliches Schweigen, das in den meisten Fällen durch einen Schock ausgelöst wurde«, erläuterte Shoemaker und schüttelt dabei leicht den Kopf. »Sie reagiert auf keine Fragen. Auch nicht auf gutes Zureden. Sie hat sich völlig verschlossen.«
»Und was meinen Sie, kann man dagegen tun? Wie können wir Meg helfen?«
Shoemaker stand auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging zum Fenster.
»Ich fürchte, uns fehlen die Mittel und die nötige Erfahrung, um dem Mädchen helfen zu können. Was sie erlebt hat, muss grauenvoll gewesen sein. Wir können nur mit ihr sprechen und versuchen, zu ihr durchzudringen. Das ist der einzige Weg, den wir beschreiten können. Reden und noch mal reden.«
Wulf trat neben den Doktor und
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