Graveminder
Geruch – des Todes zimperlich zu reagieren. Er hatte acht Jahre lang in Bestattungsinstituten außerhalb von Claysville gearbeitet und dann dem heftigen Drang nachgegeben, nach Hause zurückzukehren. Dort draußen hatte er die Ergebnisse von Todesfällen durch Gewalteinwirkung gesehen, tote Kinder; Menschen, die nach langem Leiden gestorben waren. Um einige von ihnen hatte er getrauert, obwohl sie ihm fremd gewesen waren. Aber übel geworden war ihm nie. Auch in diesem Fall würde ihm nicht schlecht werden, doch es fiel tatsächlich schwerer, die Distanz zu wahren, wenn man den Toten gekannt hatte.
»Evelyn holt ihr saubere Kleidung.« Chris lehnte an der Arbeitsfläche, und Byron fiel auf, dass das Blut nicht auf diese Seite des Raums gespritzt war.
»Hast du schon Spuren gesichert oder …« Byron hielt inne und beendete den Satz nicht. Er hatte keine Ahnung, was alles zu tun war. Er hatte mehr Leichen abgeholt, als er zählen konnte, aber nie von einem noch frischen Tatort. Er war weder Pathologe, noch hatte er mit forensischen Untersuchungen zu tun. Seine Arbeit begann nicht am Tatort, sondern anschließend. Wenigstens war es bisher so gewesen. Nun war er wieder zu Hause, und hier lief es nicht so, wie er es gewohnt war. Die Kleinstadt Claysville war anders als die Städte, in denen er sich herumgetrieben hatte. Wie anders sie war, hatte er erst erkannt, nachdem er fortgegangen war … vielleicht sogar erst bei seiner Rückkehr.
»Welche Spuren denn?« Chris warf ihm einen drohenden Blick zu, unter dem viele zusammengezuckt wären, aber Byron erinnerte sich noch an die Zeit, als er und der Sheriff junge Burschen gewesen waren – und Chris zu Shelly’s Stop ’n Shop gegangen war, um ein Zwölferpack Bier zu holen, da Byron noch nicht ganz alt genug gewesen war, um es selbst kaufen zu können.
»Spuren des Verbrechens.« Mit einer Handbewegung umschrieb Byron die Küche. Blut war in hohem Bogen über Maylenes Boden und ihre Schränke gespritzt. Auf dem Tisch standen ein Teller und zwei Trinkgläser, ein Hinweis darauf, dass eine zweite Person anwesend gewesen war – oder darauf, dass Maylene zwei Gläser für sich selbst hingestellt hatte. Sie könnte also die Person, die sie angegriffen hat, gekannt haben, dachte Byron. Ein Stuhl lag umgestürzt auf dem Boden. Sie hatte sich gewehrt. Auf dem Schneidbrett lag ein Laib Brot, daneben stapelten sich mehrere abgeschnittene Scheiben. Sie hatte ihrem Angreifer vertraut. Das Brotmesser war abgewaschen worden und lag als einziger Gegenstand in einem hölzernen Trockengestell neben dem Spülbecken. Jemand – der Mörder? – hatte aufgeräumt. Während Byron aus dem Durcheinander schlau zu werden versuchte, fragte er sich, ob Chris einfach nicht über die Spuren reden wollte. Vielleicht sieht er etwas, das mir entgeht, fiel ihm ein.
Ein Labortechniker, den Byron nicht kannte, betrat die Küche. Er wich dem Blut auf dem Boden aus, trug aber für alle Fälle Schutzbezüge über den Schuhen. Er hatte seinen Koffer nicht dabei, und das schien darauf hinzuweisen, dass der Techniker seine Aufgaben in diesem Raum bereits erledigt hatte.
Oder er hatte nicht vor, überhaupt etwas zu tun.
»Hier.« Der Techniker hielt ihm einen Wegwerf-Overall und Einmalhandschuhe aus Latex hin. »Vermutlich brauchen Sie Hilfe, um die Tote von hier wegzuschaffen.«
Sobald Byron Overall und Handschuhe angezogen hatte, wandte er den Blick von dem Techniker zu Chris. Er gab den Versuch auf, sich in Geduld zu üben. Er musste es wissen. »Chris? Es ist schließlich Maylene und … Sag mir einfach, dass du … Keine Ahnung … dass du den Täter finden wirst.«
»Lass es bleiben!« Chris schüttelte den Kopf und stieß sich von der Küchentheke ab. Im Unterschied zu dem Techniker achtete er ganz genau darauf, wohin er trat. Er ging zur Tür, die in Maylenes Wohnzimmer führte, als wolle er einen größeren Abstand zu der Leiche schaffen, und fing Byrons Blick auf. »Tu einfach deine Arbeit!«
»Gut.« Byron hockte sich hin, streckte die Hand aus und hob dann wieder den Blick. »Kann ich sie anfassen? Ich möchte keine Spuren zerstören, falls du noch …«
»Erledige alles, was nötig ist!« Während er sprach, sah Chris Maylene nicht an. »Ich kann nichts tun, bevor du sie weggebracht hast, und es ist nicht in Ordnung, dass sie so daliegt. Also … mach dich dran! Bring sie fort!«
Byron zog den Reißverschluss des Leichensacks auf. Lautlos entschuldigte er sich bei der
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