Grayday
alten Fabrik hat sich inzwischen eine Versandhandelsfirma niedergelassen. Der frühere Hauptgeschäftsführer wohnt nicht mehr unter seiner alten Adresse direkt am Fluss und ist auch in keinem Wahlverzeichnis Londons zu finden. Nachforschungen bestätigen, dass ein Maklerbüro in Battersea den Verkauf des In-Vitro-Apartments im Auftrag der Tomorrow*- Gläubiger abgewickelt hat, aber von dort erfährt man nur, dass der neue Besitzer ein Finanzunternehmen in den USA ist, das die Wohnung als Bleibe für leitende Angestellte nutzt, wenn sie in London sind. Swifts frühere Finanz- und Kreativdirektoren, die jetzt beide bei der Geist Agency arbeiten, behaupten, seit seiner verhängnisvollen Brüsselreise keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt zu haben. Interessanterweise geben beide zu verstehen, dass es Swifts veränderte Persönlichkeit und sein fehlendes Interesse an Tomorrow* waren und nicht so sehr die Liquiditätsprobleme, was letztlich zum Untergang der Firma geführt hat. In einem Telefongespräch aus L.A., wo sie als Lifestyledirektorin arbeitet, fasst es seine frühere Assistentin Kika Willis in die einfachen Worte: »Er war nicht mehr Guy. Die Sache hat einen Freak aus ihm gemacht.«
Eine entschlossene Suche wird schließlich einen langen zerfurchten Feldweg entlangführen, der von einer gewundenen Landstraße in den North Pennines abzweigt. An seinem Ende steht, unter eine steile Granitwand geduckt, ein einstöckiges steinernes Cottage mit tief liegenden Fenstern und einem Schieferdach, ein gedrungener kleiner Bau, der dem Ansturm durch northumbrischen Wind und Regen Widerstand zu leisten imstande ist. Die öde Landschaft darum herum hat sich in Hunderten von Jahren kaum verändert. Schafe grasen auf Moorheiden, die mit Trockenmauern eingefasst sind. Unten im Tal gräbt ein Fluss sein Bett durch üppiges Weideland, das im Frühling unter Wasser steht und im Winter hart gefroren ist. Das nächste Dorf ist zehn Kilometer entfernt. Von weitem sieht das Haus unbewohnt aus. Draußen liegt rostendes Ackergerät herum, und an einem Regentag liefert die einzige Andeutung von Farbe der rote Lack des ältlichen Ford Fiesta, der neben der Tür parkt. Die Rauchwolke, die aus dem Schornstein steigt, erfüllt den Besucher mit Schrecken, ein Zeichen menschlicher Gegenwart, wo man keine erwartet hat.
Der Mann, der die Tür öffnet, sieht den Pressefotos, die zur Zeit seines Verschwindens kursierten, nicht sehr ähnlich. Er trägt einen Vollbart, der einen Großteil seines Gesichts verdeckt und ihm ein ernstes, patriarchalisches Aussehen verleiht. Er ist mit formlosen Cordhosen und einem dicken Pullover mit Zopfmuster bekleidet, der am Ärmel ein Loch hat. Man hätte Mühe, sich jemanden vorzustellen, der weniger wie der Londoner Chef einer Marketingagentur aussieht.
Während Guy sich über einen in die Jahre gekommenen Gasherd beugt, um Wasser für den Tee aufzusetzen, kann der Besucher, der am Küchentisch Platz genommen hat, heimlich einen Blick auf seine Umgebung werfen. Der Eichentisch ist durch Jahre des Gebrauchs narbig und voller Vertiefungen. Ein Windglockenspiel hängt am Fenster, und auf dem Fensterbrett neben der Spüle steht eine Reihe alter, schiefer Töpfe mit Gartenkräutern. Man hat den Eindruck von Ordnung, Häuslichkeit. Wenn Guy Swift den Tee in großen, blauweiß emaillierten Henkelbechern bringt, kann man einen Blick auf seine Hände werfen. Sie sind schwielig, und die Nägel sind geborsten und schmutzig.
Guy redet gern über die Erde. Sie ist, behauptet er, der Ursprung des Lebens. »Früher«, erinnert er sich, »habe ich unter starkem geopathischem Stress gelebt.« Er vertritt die Theorie, dass London (und in geringerem Maße andere Städte auch) eine ungeheure Verzerrung des natürlichen Kraftfeldes der Erde verursacht, die körperliche und seelische Leiden bei den Menschen auslöst, die darin leben müssen. »Es war«, sagt er kopfschüttelnd, »eine totale Lebensumstellung nötig, damit ich wieder gesund wurde.« An diesen entlegenen Ort zu ziehen, sei die einzige Lösung gewesen. »Sonst wären mir die Dinge völlig entglitten.«
Erde bildet auch den Inhalt des Berufes, den Guy nach seiner Lebensumstellung gewählt hat. Die Töpfe auf dem Fensterbrett hat er gemacht. Ein Raum des Hauses ist zu einer Werkstatt mit einer Drehscheibe und einem kleinen elektrischen Brennofen umfunktioniert worden. Besuchern demonstriert er seine Drehtechnik oder er erbietet sich, einem die Geheimnisse seiner bevorzugten
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