Grayday
Meistgesuchtenliste hat, in einem Zimmer auf einer der oberen Etagen aufgespürt. Man weiß nicht, ob der Verdächtigte bewaffnet ist, immerhin besitzt er bekannte militante Verbindungen. Zu dem Team, das von der FBI-Außenstelle in San Diego zusammengezogen worden ist, zählt Personal aus dem Gemeinschaftlichen Terror-Sonderkommando. Schriftliche Anordnungen wurden erteilt, wonach die Anwendung äußerster Gewalt gestattet ist. Waffenspezialisten von der Polizei, dem FBI und dem Büro für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen versorgen sich aus Arsenalen mit Ausrüstung, und unter Führung eines leitenden Beamten der Polizei von San Diego begibt sich der Trupp mit Vollgas zu der genannten Adresse. Eine Kommandozentrale wird auf dem nahen Parkplatz eingerichtet, und um das Motel wird diskret eine Postenkette aufgestellt, wobei vor allem darauf geachtet wird, dass unter den Käufern im Outlet Center keine Panik entsteht. Büroangestellte werden aus dem Gebiet evakuiert, ehe der Trupp einrückt.
Den Zutritt ins Zimmer 206 verschafft man sich rasch und brutal. Unter der Wucht einer 35-Pounds-Nahkampframme gibt die Tür sofort nach. Agenten rufen dem Bewohner eine Warnung zu, aber der reagiert nicht. Schüsse fallen. Der Bewohner geht zu Boden. Eine Ambulanz wird gerufen und erscheint schnell, aber das Opfer wird noch am Ort des Geschehens für tot erklärt. Später wird der Tote in ein Leichenschauhaus in San Diego überführt. Zum Leidwesen des Polizeiteams stellt sich bei näherer Untersuchung heraus, dass es sich bei dem Toten nicht um Arjun Mehta, den steckbrieflich gesuchten Terroristen, handelt, sondern um einen nicht identifizierten südostasiatischen Jugendlichen. Bei dem toten Jungen findet man eine billige Pistole vom Kaliber 22.
Binnen Minuten sind die örtlichen Nachrichtenmedien zur Stelle. Der Beamte, der geschossen hat, wird zur Berichterstattung und psychologischen Betreuung in die Außenstelle gebracht, während man das Riverside Motel abriegelt und von dem Zimmer eine Reihe von Fotos macht, Fotos, die rasch ins Internet durchsickern und detaillierte Spekulationen über (unter anderem) die Marken der Verpackungen im Papierkorb und das zusammengeknüllte Oakland-Raiders-Shirt im Bad auslösen. Einige Informationen dringen zu den Medien durch. Der Junge heiße Kim Sun Hong und sei Schüler einer High School in San Diego. Die Pistole sei von einem Typ, wie er in anderen Bundesstaaten für $7,98 in bestimmten Waffengeschäften verkauft werde. Was er in Arjun Mehtas Zimmer zu suchen hatte, bleibt rätselhaft.
Guy Swift, Arjun Mehta und Leela Zahir verschwanden unter dramatischen, aber nicht einzigartigen Umständen. Alle drei gehören zu einem viel umfassenderen Muster von Störungen, die mit dem Virus zusammenhingen: Am Grayday gab es dichten Verkehr über die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Die Geschichte, die am einfachsten zu lösen oder zumindest zu erzählen ist, ist die von Guy Swift, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er wieder auftauchte. Sein Ausflug ins Zwischenreich dauerte etwas weniger als einen Monat, in dem eine intensive (wenn auch personell unterbesetzte) Suche in ganz England und Nordeuropa durchgeführt wurde. Die Polizei ging Meldungen nach, man habe ihn in Bremen, Malmö, Le Havre und Portsmouth gesehen. Die Medien setzten die Theorie einer Unterweltverbindung in Umlauf, und irgendwann teilte die Polizei mit, sie glaube, der »flüchtige britische Geschäftsmann« habe sein Verschwinden selbst in Szene gesetzt, um sich Finanzproblemen zu entziehen.
Nach seiner Rückkehr ins Vereinigte Königreich tauchte Swift unter. Die anfängliche Welle der Medienaufmerksamkeit richtete sich auf die Möglichkeit eines Prozesses. Alle erwarteten zuversichtlich eine Schadensklage, die er in Anbetracht der außergewöhnlichen Behandlung, die ihm widerfahren war, zweifellos gewonnen hätte, aber schnell wurde deutlich, dass er sich wirklich nichts sehnlicher wünschte, als von der Bildfläche zu verschwinden. Der angeblich so großspurig-extravagante Geschäftsmann entpuppte sich als lausiger Interviewpartner. Seine wenigen Presseerklärungen gaben nichts her und waren geradezu einsilbig. Nach einer Weile verloren die Medien das Interesse.
Heute muss, wer mit dem »Londoner Senkrechtstarter« reden möchte, der »als Schwemmgut an einem Ferienstrand entdeckt« wurde, ihn erst einmal finden. Nach dem Zusammenbruch von Tomorrow* wurden die Büros in Shoreditch verkauft, und in der
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