Grayday
hinüber. Gegenstände gingen verloren: ein Lastwagen, der mit Kriegsgerät aus einem Depot in Belgrad beladen war; ein jüngst für echt erklärter Rembrandt. Geld in allen physischen Erscheinungsformen verschwand aus dem Blickfeld, aber auch Geld in seiner essentiellen Form, was bedeutet, dass am Grayday eine gewisse Menge Geld schlichtweg zu existieren aufhörte. Das ist ein komplizierter Schaden. Geld neigt zu Virtualität. Es fliegt in der Form von Versprechungen und Vorbehalten durch die Gegend, liegt in den Köpfen von Marktstrategen verborgen, bis es durch Vertrauen, einen Zentralbankbeschluss oder ein besonders langes Mittagessen Realität erlangt. Es ist letzten Endes schwierig zu beurteilen, ob einiges von dem Geld, das nach Grayday nicht mehr da war, davor wirklich existiert hat. Wäre Grayday nicht passiert, wäre vielleicht eine gewisse Menge ungeborenen Geldes auf die Welt gekommen. Wir können da nicht sicher sein. Wir wissen jedoch, dass Geld verschwunden ist, doch wie viel und wohin es verschwand, sind Fragen, auf die die Börsenmakler wirklich keine Antwort geben wollen. Besser, man vergisst das Ganze, sagen sie. Besser, man geht zu anderen Fragen über, lässt sich was Neues einfallen.
Grayday bezeichnet also einen Moment äußerster Ungewissheit, eine Zeit allergrößten Zweifels. Wir haben Zeugnis von Ereignissen, die vielleicht gar nicht stattgefunden haben. Andere Ereignisse fanden statt, ohne Zeugnis zu hinterlassen. Alles, was man ehrlich sagen kann, ist, dass es hinterher Leerstellen gab, Lücken, die nie wieder gefüllt worden sind.
Leere Hotelzimmer zum Beispiel. Drei Zimmer, deren Bewohner nicht mehr da sind. Wenn ein Mensch verschwindet, können die Gegenstände, die er zurücklässt, in ihrem Schweigen fast unerträglich werden. Je persönlicher sie sind, desto deutlicher scheinen sie die Abwesenheit ihres Besitzers zu betonen. Das Zimmermädchen in dem Vier-Sterne-Hotel Ascension in Brüssel schlägt die Bettdecke zurück und legt eine Praline und einen Gutschein für ein kostenloses Schuheputzen aufs Kopfkissen. Auf der Frisierkommode liegt ein Häufchen britischer Münzen, Taxiquittungen und anderer kleiner Gegenstände. Walkman-Kopfhörer. Ein Stromadapter. Sie hängt den Kleidersack in den Schrank und nimmt die Toilettentasche vom Fernseher und trägt sie ins Bad. Den Pass auf dem Nachttisch fasst sie nicht an. Das Zimmermädchen der Morgenschicht bekommt keine Antwort auf ihr Klopfen. Sie betritt das Zimmer und findet alles genau so, wie es ihre Kollegin hinterlassen hat. In dem Bett wurde nicht geschlafen. Die Zahnbürste ist trocken. Mittags erhält die Direktion einen Anruf eines Geschäftspartners des Hotelgastes. Er hat einen Termin nicht eingehalten. Zehn Minuten später ruft er noch einmal an. Um zwei stellt das Hotel dem abwesenden Marketingmanager eine weitere Nacht in Rechnung. Die Polizei wird erst am nächsten Morgen angerufen, als klar ist, dass Guy Swift etwas zugestoßen sein muss.
Ein Zimmer in der oberen Etage von Clansman’s Lodge Hotel in Schottland. Eines der besseren Zimmer mit Blick auf den Garten und den See. Eine Orgie aus Chintz, Spitzen und Röschentapeten. Eine Schale mit Duftsträußchen auf dem Nachttisch und eine weiße Kaffeemaschine aus Plastik auf der Frisierkommode, daneben ein Körbchen mit Filtern, Sahnekännchen und vakuumverpackten Kaffeebeutelchen. Ihre Sachen sind zum größten Teil da, die teuren Banarsi-Saris, die Make-up-Taschen, die Reihen der Spraydosen und Flaschen im Badezimmer. Sie hat einen kleinen tragbaren DVD-Player dagelassen und einen Stapel CDs, die sie sich noch nicht angesehen hatte und die noch in einer Duty-free-Tüte liegen. Sie hat den riesigen Stoffaffen dagelassen, den ihr jemand zur Besserung geschenkt hat. Unter dem Bett liegt eine leere Zigarettenschachtel und ein zerrissenes Drehbuch, aber Leela Zahir selbst ist nicht da. Ihrer Mutter, die mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt und völlig durcheinander ist, gelingt die Mitteilung, dass ihrer Meinung nach einige Kleider verschwunden sind. Ebenso der Laptop ihrer Tochter. Iqbal hat Leelas Pass in der Hand, aber es ist möglich, dass sie noch einen besitzt. Die Polizei versucht zu beruhigen. Auf dem Land in Schottland kommt ein indisches Mädchen nicht weit, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Die Ereignisse im Riverside Motel in San Ysidro sind gewalttätiger. Auf Informationen aus der Öffentlichkeit hin hat das FBI einen Mann, den es auf seiner
Weitere Kostenlose Bücher