Graz - Novelle
verlangte nach Schnelligkeit, dem Rhythmus meiner eigenen Schritte, dem Tempo meiner eigenen Gedanken. Am liebsten wollte ich wegrennen. Mein Vater blickte aus seinen Augenwinkeln in meine Richtung. Jeden Moment konnte er wieder wachsen. Er würde mit einem schiefen Rücken bis über meinen Kopf wachsen und über mir hängen und mich rügen, weil ich mit den Füßen schleifte und einen eigenen Willen hatte.
„Geh nur“, sagte ich, als er um das Taxi herumgegangen war und die Autotüre öffnete. Er schaute auf und kam mir mit seiner Antwort keinen Millimeter entgegen.
„Natürlich“, sagte er.
Ich hatte gehofft, dass er noch etwas über seine Entscheidung sagen würde. Ein abschließender Scherz wäre schön gewesen. Ein Witz hätte uns näher zusammenbringen können. Er hätte zeigen können, dass wir etwas geteilt hatten. Selbst wenn er nur ein paarmal wiederholt hätte, was ich gesagt hatte – geh nur, geh nur –, wäre es lustig gewesen. Er hätte seine Version daraus machen können. „Ich gehe. Tatsächlich.“
Mein Vater tat nichts nur der Zierde wegen.
Er ging.
Das Taxi nahm eine scharfe Kurve um den Kreisverkehr und fuhr in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren. Ich hörte die Reifen durch den nassen Schnee ziehen, als ob der Straßenbelag Sirup wäre.
Eine Zeitlang stand ich verwirrt da und starrte weiterhin zum Ende der Schmiedgasse.
Natürlich würde der Taxichauffeur nicht rechtsrum kehrt machen, weil mein Vater ihm auf die Schulter getippt hatte. Natürlich änderte mein Vater seinen Plan nicht, das würde er nie machen. Besonderer Abend oder nicht, das Taxi würde nicht zurückkommen, um mich abzuholen.
Als mir klar wurde, dass ich nicht darauf wartete, aber dass ich es – ärger noch – erwartete, sah ich mich um. Ich merkte, dass niemand mit offenen Armen auf dem Weg zu mir war.
Ich drehte mich um, schaute nach links, nach rechts, zögerte wegen des Spazierganges, der vor mir lag, und ging schließlich den Hauptplatz hinauf. Ich überlegte, durch die breite Herrengasse nach Hause zu gehen. Meine geplagte Lunge brauchte Raum.
Mein Schritt war schnell. So lief der Däumling, als er gerade seine Stiefel bekommen hatte. Ich atmete so tief wie möglich ein und so lange wie möglich aus und blickte in die Luft, hinauf zu den Resten Pulverschnee, der in Schleiern aus den letzten dünnen Wolken fiel und mit dem Wind in alle Richtungen geschickt wurde.
Immer wenn ich über den Hauptplatz ging, sah ich auf die Uhr vor dem Geschäft von Weikhard. Es war eine Uhr aus den Dreißigerjahren, so eine, wie ich sie selbst gerne haben wollte. Ich las die Zeit mit einem Augenaufschlag ab. Ich erkannte, dass es noch nicht einmal zehn Uhr war, und das wunderte mich. Überrascht klatschte ich in die Hände. Ich dachte an das Wort vortrefflich. So habe ich noch nie reagiert. An dieses Wort hatte ich noch nie gedacht.
Es gab Leute, die erschraken, weil ich mich am Anfang der Herrengasse um meine eigene Achse drehte und dann meinen Spaziergang fortsetzte. Ich dachte: Diese Straße ist breit, aber der Himmel ist breiter.
Let’s have a look through the glasses
.
SLATER
Auf dem Hauptplatz hatte ich den Wind schon gefühlt, doch als ich diagonal den Schlossbergplatz überquerte, um zum Kriegssteig zu gelangen, merkte ich erst, dass er schnitt. Es war ein hinterlistiger Nordostwind, der nicht pfiff, die Sorte Wind, die sie in Slowenien Bora nennen und der vom Tod geschickt wird, wenn es Zeit ist, jemanden zu holen. Wenn ein Wind einen eigenen Namen hat, muss man sich in Acht nehmen. Meine Augen brannten, weil mein Blick nach oben gezwungen wurde.
Auf dem Schlossbergplatz neigen sich die Fassaden links und rechts zueinander, wie bei einem Bühnenbild. Die Dächer zeigen in die Luft. Darum stockt einem der Atem, wenn sich plötzlich der Berg vor einem aufrichtet, während man das betrachtet. Egal zu welcher Jahreszeit, der Berg ist ein Riese, der auf großen Füßen in die Stadt gekommen ist und nur seine Absätze aneinanderzuschlagen braucht, um ein Haus dem Erdboden gleichzumachen. Im Sommer trägt er eine flatternde Jacke, im Winter behält er lange die Kleider des Herbstes an, bis Schnee fällt. Dann schmiegt sich der Kriegssteig im Zickzack an ihn an, eine Girlande auf einem Christbaum, der schon fast alle Nadeln verloren hat. Ich stieg über das kleine, niedrige Tor, das geschlossen wurde, sobald es auf den Stufen glatt wurde und Unfälle passieren konnten, und sah nach oben zu dem
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