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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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meinen Kopf und schaute dem Jungen mit dem Muttermal nach.
    Die sinnliche Bewegung der Schultern. Der geschmeidige Rücken. Die Teller und Schüsseln auf der Hand und dem Unterarm waren federleicht. Als er bei der Küche war, trug er keine Fliege, kein Hemd und kein Unterhemd mehr. Seine Haut war blass und mit Pigmentflecken übersät, und in seinem Nacken saß, wie ein großes Auge, das Muttermal.
    Ich musste weiter darauf starren.
    Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich mit achtzehn denn so gewesen war. Hätte mich vor zehn Jahren so ein Muttermal belastet? Hätte ich mich selbst mit dem Gedanken getröstet, dass der Fleck in meinem Nacken saß und nicht in meinem Gesicht? War mir mit achtzehn eigentlich bewusst, dass mein Körper eine Rückseite hatte?
    Aus meiner Kehle kam das Geräusch eines Tieres.
    Ich machte einen Schritt zur Seite. Fast rutschte ich aus, doch ich fing mich. Zur richtigen Zeit versetzte ich den richtigen Fuß und schon war die Gestalt, die mich fast gestreift hatte, vorbei.
    Die Frau murmelte eine Entschuldigung und ging weiter. Sie klang verkühlt. Sie stieg die letzte lange Treppe hinauf und streckte die Hände hoch, als ob sie sich ergeben würde. Sie trug rote Wollstulpen. Bevor sie mit dem Weg begann, der im Zickzack den Berg hinaufführte, nickte sie mir noch einmal zu. Ihre Schritte zögerten nicht, sie brauchte das Geländer nicht. Sie wusste, wohin.
    Ich quetschte eine späte Antwort aus meiner Kehle. Viel mehr als ein Gestammel kam nicht.
    „Sicher“, sagte die Frau von oben herab zu mir.
    Ich wusste nicht, was sie dachte, was ich gesagt hatte.
    Sie tauchte in dem roten Tuch unter, das sie ein paarmal um den Hals gewickelt hatte, und wurde kleiner.
    An einem anderen Abend wäre ich umgekehrt. Ich hätte mir in Gedanken eine Route zusammengestellt, die durch die schmalen, geschützten Gassen führte. Den Stadtpark hätte ich entlang der Erzherzog-Johann-Allee durchquert. Ich hätte genauso gut über den am wenigsten kalten Weg nach Hause gefunden und mein Vater wäre nie darauf gekommen, dass ich ein Hosenscheißer war, der alles dafür gab, den Wind auszumanövrieren.
    Ich dachte an den Zehnjährigen, der heute Abend durch den Schnee in der Schmiedgasse glitt. Ich dachte an den Mann, der ich war. Ein Mann, der mit achtundzwanzig neben seinem Vater durch den Schnee glitt und die ganze Zeit wusste, dass er vielleicht morgen allen Aufgaben gewachsen sein musste, aber heute noch nicht.
    „Hallo Vater, ich bin zuhause.“
    Ich sah nach oben, zu dem Weg, der noch vor mir lag. Die Frau war aus meinem Blick verschwunden. Ich dachte an ihre Handschuhe, ihr Tuch. Ihre Jacke war in meiner Erinnerung kurz. Stark gebückt gegen den Wind war sie nicht gegangen. Ich schätzte, dass ich noch mindestens hundert Stufen und ein paar Pfade vom Himmel entfernt war und dachte: Wenn sie das kann.
    Dann lief ich die Treppe hinauf, die letzte lange Treppe, bevor der Weg im Zickzack begann.
    Nach dem Abend beim Welscher habe ich oft an dem Namen, den mein Großvater 1929 für die Apotheke gewählt hatte, herumgemäkelt. Ich zerbrach mir lange den Kopf darüber, ob nicht etwas Ähnliches zu finden war, das nicht unbedingt in der Lammwolle stecken blieb. War es nach meinem Großvater und meinem Vater nicht höchste Zeit, einen Namen zu finden, der kampflustig klang? Gab es keinen Namen, der einen Speer oder ein Gewehr aufrief, anstatt eines lahmen Stocks? Menschen vertrauten einem braven Hirten, aber war nicht auch etwas zur Symbolik eines Fischers oder Jägers zu sagen?
    Der Sarg meines Vaters und die Leisten der Rahmen wurden sozusagen am gleichen Tag ausgemessen. Ich konnte die sieben Rahmen mit den goldenen Lettern nicht schnell genug austauschen. Da ich nicht wollte, dass sich mein Vater und mein Großvater in ihrem Grab umdrehen, habe ich den Namen, der in die Vergangenheit wies, später in kleinen Buchstaben unter dem neuen Namen angebracht. Keinen Moment bereute ich die Veränderung. Und ich muss zugeben, dass ich es nicht schlimm finde, dass ich ein Paneel über der Türe vergessen hatte. Dort steht der Name noch so wie früher. In dem Gold von früher.
    Mit den Jahren habe ich gelernt, dass ein guter Hirte Fischer und Jäger und Fisch und Wild zugleich ist. Er kennt die Schule und die Herde und die Fährte und die Einsamkeit. Wie kein anderer erkennt er das Risiko der Dinge. Dann kam ich keuchend beim Uhrturm heraus, in einem kleinen Schneefeld, wo kleine Tafeln darauf hinwiesen, dass man nicht

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