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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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schneebedeckten Geländer, das feine Linien zog, den schlanken Laternen, die den Weg anzeigten, kleiner wurden, auf dem Bauch des Berges der Sicht entschwanden.
    Zuerst hatte ich meine Füße noch achtsam unter Kontrolle. Da, wo der Schnee gleichmäßig verteilt lag, war die Stufe vertrauenswürdig. Ich hörte das zarte Knirschen unter meinen Schuhen, fand einen Rhythmus darin. Ich mag es, wenn die Dinge zusammenkommen, wenn sie füreinander bestimmt sind. Nach kurzer Zeit stieg ich gedankenlos, Baum für Baum, nach der Melodie des knirschenden Schnees, empor.
    Ich habe dafür studiert, um wie kein anderer das Risiko der Dinge zu erkennen. Chemie strömt durch meine Adern, Naturgesetze wurden mir mit dem Löffel verabreicht. Wenn ich sage: „Komm her, kalter Wind“, weiß ich bereits, was der kalte Wind mit mir tun wird. Ich kann der Reihe nach aufzählen, was passieren wird. Ich beherrsche die Kunst, mir selbst innerhalb kürzester Zeit die Freude zu verderben.
    Nach dem Abendessen beim Welscher pfiff ich auf die Reihenfolge. Was bedeutete schon ein Fehler, ein Missgriff, eine Entgleisung. Gleichgültig, wie dieser Abend nun abgelaufen war. Meine Beine mussten sich bewegen. Die Lunge musste pumpen. Ich wollte keine Ursache und keine Wirkung sehen. Ich hatte das Bedürfnis weiterzugehen. Ich wollte wissen, ob es mich gab.
    Sobald die Stufen über den Dächern herauskamen, half mir der Wind. Er verlor die Fassung. Er wetzte die Messer und benutzte sie auch.
    Ich suchte zwischen meinen Schultern Deckung und klemmte meinen Kragen zu. Die Enden des Revers faltete ich rund um meine Faust. Meine Faust drückte ich unter mein Kinn. Ich wendete meinen Körper von diesem Knecht des Todes ab. Vergeblich. Er fuhr mit seinen Nägeln über meine Wangen.
    Dann endete die Betonreling. Es blieb nur noch eine schäbige, metallene Brüstung, die keinerlei Schutz bot. Meine Hose war aus Papier. Ich steckte die Fäuste tief in die Jackentaschen und rieb meinen Körper an der Innenseite der Kleidung. Die Kälte ließ nicht nach. Sie setzte ihre Klaue wie eine Zange in meinen Schritt.
    Es gelang mir, einen Knopf meiner Jacke aufzumachen und eine Hand durch das Loch hineinzuzwängen. Mit den Fingerspitzen suchte ich meine Leiste, drückte sachte hinein, knetete mein Skrotum durch den Stoff hindurch, es schrumpfte und schwoll darunter, schrumpfte und schwoll, als ob es abwechselnd von innen brannte und von außen fror.
    Ich ertappte mich selbst bei einem Grinsen, und ich konnte nicht anders: Der Grinser wurde breiter. Ich überlegte, meine Stimme einzusetzen, um zu hören, ob meine Stimme höher war als sonst.
    Dann brach ich in schallendes Gelächter aus.
    Vorwärts, dachte ich. Vorwärts, es gibt wieder Platz für alles.
    Ich knöpfte die Jacke zu, machte ein paar Schritte und wurde durch die Flächen der weißen Dächer hinter meinem Kragen abgelenkt. Schon oft hatte ich die Stadt unter dem Schnee gesehen, aber noch nicht oft von oben. Bei Tag war es ein schöner Anblick, bei Nacht wurde es eine Ansichtskarte. Ich flennte, weil ich überwältigt wurde.
    Der Junge mit dem Muttermal beim Welscher hatte mich mit seiner Bemerkung über das besondere Licht überrascht. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob es vielleicht noch andere Menschen gab, die dieses unbeschreibliche Purpur kannten, das in der Nacht, nachdem es geschneit hatte, in der Luft hing. Ich fragte mich, ob der Junge, genau wie ich, davon überzeugt war, dass die meisten Wunder in diesem Licht passierten. Wenn man diese Farbe nach einem Schneeschauer sah, musste man wohl denken: Es gibt sie wirklich. Das hätte ich einmal meinem Vater bei Tisch hinwerfen sollen. „Was denkst du, Vater?“
    Ich faltete die Hände zu einem kleinen Hohlraum vor dem Mund und versuchte, den Gedanken an den Welscher zu einem anderen Gedanken zu verändern. Ich wendete mich ab von der dunklen Holzvertäfelung, ab von den dampfenden Tellern, ab von der Glut des Ofens weiter vorne, ab von meinem Vater.
    Er prüfte die Leute. Um seinen Mund herum spielte ein Schmunzeln, das er sich selbst angelernt hatte. Seine Hände ruhten auf dem Tischrand, seine Arme hielt er gestreckt. Er war langsam. Er war Herr und Meister des Hier-und-Jetzt. Mein Vater ist sehr vergesslich gestorben. Zuletzt wusste er nicht einmal mehr, was er gerade gedacht hatte. Er wusste nicht mehr, wo er in seinem eigenen Haus war. Das muss schlimm sein, wenn man immer Herr und Meister des Hier- und-Jetzt gewesen ist.
    Ich drehte

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