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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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Menschen beschäftigen wollte. Er drängte mir die Rezepturen nicht aus dem Grund auf, weil er das Leben nach seinem Sechziger nur noch hinter dem Verkaufspult verbringen wollte. Sein Plan war nicht, bis zu seinem Lebensende so zu leben, wie sein Vater es ihm vorgeschrieben hatte.
    Langsam, wenn die Leute zusehen.
    Hirten kennen wie niemand anderer die Länge eines Tages. Ein guter Hirte hat Geduld.
    Zum Guten Hirten gehen die Leute, um sich Aufmerksamkeit zu holen. Wir müssen die Ersten sein, die sagen, dass alles gut wird. Es ist wichtig, dass wir dabei auf den Körperteil, von dem wir sprechen, zeigen. Den Kopf, den Hals, die Lunge, den Magen.
    Diese Art Weisheiten, die streng genommen keine Weisheiten sind, hat mein Vater von seinem Vater mitbekommen. Er hat sie wiederum an mich weitergegeben. Jeden Tag der Woche wurde eine wiederholt, am Küchentisch, auf halbem Weg im Stiegenhaus, bei der Kapselfüllmaschine.
    Auf einmal begriff ich, dass mein Vater nicht nur damit aufhören wollte langsam zu sein, wenn die Leute hinsahen. Er wollte für immer aufhören mit dem Langsamsein.
    Als die Nachricht mit voller Wucht bis zu mir durchdrang, wurde er, von der anderen Seite des Tisches aus, davon Zeuge. Er las meine Gedanken und nickte und zeigte auf sich. Seinen Kopf, seinen Hals, seine Lunge, seinen Magen.
    Dann streckte er die Hand nach mir aus.
    Er erwartete, dass ich ihm die Hand schütteln würde. Er hoffte, dass ich einverstanden sein würde. Dass ich sagen würde: „Abgemacht.“ Oder: „Du kannst dich auf mich verlassen.“
    Natürlich bekam ich kein Wort über die Lippen. Seine Hand drang in Brusthöhe in meinen Körper ein, drückte meine Luftröhre zu, rüttelte an meiner Kehle.
    Ich tat genau das Gegenteil von dem, was mein Vater sehen wollte. Ich wich nach hinten aus. Ich starrte mit großen Augen ins Innere meines Kopfes und fluchte in mich hinein. Ich packte die Hand meines Vaters und ließ meine Stirn gegen seine Finger fallen und es war mir klar, dass er diese Geste später nachspielen würde. Er würde mein Verhalten eine Pantomime nennen. Eine lächerliche Vorstellung. Er würde den Josef darstellen.
    Gleich bei der Mohren-Apotheke auf dem Südtiroler Platz steht über der Türe eines gewöhnlichen Hauses eine possierliche Heilige Familie, mit einem Josef, dem auf einmal einfiel, die Hand des Kindes zu küssen.
    Josef, der handküssende Zimmermann. Mit diesem Josef würde mein Vater mich später vergleichen.
    Am Tisch beim Welscher zog er die Hand zurück und wischte die Finger an seiner Hose ab. Er presste die Lippen aufeinander, bis nur noch ein Minuszeichen überblieb, und fragte, ob ich vorhatte, alles alleine zu tun. Bei ihm klang das, als ob Einzelgängertum etwas Schmutziges wäre.
    Der Tisch wurde sehr schmal.
    Ich schaute meinen Vater direkt an und imitierte seinen Ton. Ich sagte, dass ich nicht vorhatte, alles alleine zu machen, aber dass ich zuerst das Dessert aufessen wollte, das zu meinem Menü gehörte.
    „Oh“, sagte mein Vater. Er musste sich rücklings hinsetzen und eine Frage, die von oben herab kam, beantworten. Der Junge mit dem Muttermal fragte, ob er noch etwas wünschte, eine Käseplatte vielleicht oder einen Schichtenstrudel, doch er schüttelte seinen Kopf und bekam somit nichts. Mein Dessert wurde auf einem großen Teller präsentiert. Ein süßes Gebäck mit einem Glas Eierlikör dazu.
    Mein Vater sah zu, wie ich aß, und bezeichnete den Teller als festlich.
    „Ja“, sagte ich.
    Ich wagte es nicht, noch einen ganzen Satz zu beginnen. Dass ich fast erstickte, entging ihm.
    Er faltete seine Serviette zusammen, so wie er dachte, sie vorgefunden zu haben, und sagte, dass es gut gewesen sei. Er kannte das Wort „gemütlich“, aber er verwendete es nicht. Er machte sich auch keine Mühe, den Abend unvergesslicher zu machen, als er war.
    Noch bevor ich meinen letzten Happen hinuntergeschluckt hatte, winkte er dem Jungen mit dem Muttermal und verlangte die Rechnung. Er wartete, bis ich meine Brieftasche zog, nur um mein Geld wegschieben zu können. Er kündigte an, dass er sich nach Hause fahren lassen wollte und schaute dabei so wie jemand, der sagen wollte, dass er sich auch das noch sehr wohl leisten konnte.
    Ich ging mit ihm mit auf die Schmiedgasse, zum Taxistandplatz neben dem Rathaus und verschwieg, dass ich nicht vorhatte, ihn zu begleiten. Wie ein Sohn von zehn Jahren schlurfte ich neben meinem Vater die paar Meter mit schleppenden Füßen durch den Schnee her. Ich

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