Graz - Novelle
saßen, und zogen ihren Kopf zwischen ihre Schultern. Eng an den Häusern liefen sie weiter und verschwanden abrupt aus meinem Gesichtsfeld. Ich sah Jochen bei Hürlimann.
Ich sah Jochen und die Straßenbahn.
Ich sah sein Fahrrad und dann ihn. Er lag auf dem Rücken mit den Armen neben dem Kopf, als ob er sich während des Fallens ergeben hätte, und seine Beine lagen wie in einem Zeichentrickfilm. In seinem Hals war ein Knick. Sein Gesicht sah zur Seite von Hürlimann, aber er hatte seine Augen zu.
Schnell stellte ich die Schaufel und den Besen gegen die Mauer und lief in Richtung Maiffredygasse. Hinter meinem Rücken fiel der Besen um, die Schaufel dadurch auch.
Ich hatte Glück.
Das Tor von Nummer 14 stand noch weit offen. Unser Postbote schien mit einem leeren Türstock zu sprechen. Seine Stimme hallte, die Stimmen der Hertz Mädchen wurden durch den Widerhall verstärkt. In ein paar Sätzen berichteten sie von dem Unfall, und sie erzählten selbst, was ich noch wissen wollte. Dass sie nicht wussten, wie es Jochen Erhart ging, aber dass sie heute Mittag zu ihm gehen würden.
„Und der Strom?“, sagte der Postbote.
„Der Strom?“, fragten die Hertz Mädchen.
„Genau“, sagte der Postbote, der nicht begriffen hatte, dass sie nicht begriffen hatten, wovon er sprach. „Alles ist aufgeklärt.“
Ich kehrte zur Schaufel und zum Besen zurück. Ich schaufelte den Schnee weg und kehrte den Gehsteig. Es war viel Arbeit, denn ein Eckhaus hat viel Fassade. Die Kunden sollten sich auf jeden Fall ihre Beine nicht auf meinem Gehsteig brechen.
Nach dieser Arbeit war ich für Carla bereit.
Ich lief nach oben und setzte mich zu ihr in die Küche an den Tisch.
Sie hatte das Buch gefunden, das ich auf ihren Rat hin gerade las, und war dabei, einzelne Stellen herauszupflücken. „Und?“, sagte sie.
„Gut“, sagte ich.
„Ich habe Ackerley für dich mitgebracht.“
„Schön“, sagte ich und nickte ihr zu. Das Leben in Büchern war schön, meinte ich.
Sie mochte mein Lächeln nicht. Sie war kein Kunde. Sie schaute ernst und sagte: „Please.“
Ein bisschen Ernst von ihr war genug, um meinen Kopf nach vorne fallen zu lassen. Sie kannte mich lange genug und wusste sofort, wenn ich ein kleiner Junge war.
Ich neigte mich zu ihr. Mein Kopf war aus Blei. Fast schon hing ich mit der Nase über ihrer Kaffeetasse. Erst als sie das Buch schloss und zur Seite schob, ihre Hand in meinen Nacken legte und mich näher zu sich zog, sodass ihre Stirn die meine berührte, bekam ich endlich doch ein paar Worte heraus.
Ich sagte, dass ich heute Nacht wieder einmal näher am Beginn einer Beziehung gewesen sei.
„Eine ganz neue Beziehung, Carla“, sagte ich, und ich schob meine Hand zwischen unsere Kaffeetassen durch und zeigte zwischen meinem Daumen und Zeigefinger wie dicht ich an einer gänzlich neuen Beziehung gewesen war.
„Es fehlte nicht einmal so viel“, sagte ich.
„Das nächste Mal wird fast nichts fehlen“, sagte sie, und sie zeigte mir den Millimeter zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger.
„Ja“, sagte ich. „Und das nächste Mal werden wir gefunden.“ „Du“, sagte Carla.
„Ja, ich“, sagte ich.
Vielen Dank an Veronika Erwa-Winter vom Literaturhaus Graz. Ihre erste Einladung war der Beginn. Danke an Dieter Scheitz vom Parkhotel Romantik. Er hat die Bedeutung eines Zimmers mit Aussicht auf die Maiffredygasse immer verstanden. Danke an Jutta Bauer und Peter Stamm. Es war gemütlich in dem Restaurant, das später der Welscher wurde. Vielen Dank an Frank Vercruyssen und STAN. Durch ihr Zutun machte ich weiter. Vielen Dank schließlich an den Niederländischen Literaturfonds für den nötigen Atemraum.
Mögliche Übereinstimmungen mit existierenden Personen oder Orten in Graz sind rein zufällig.
BART MOEYAERT, *1964 in Brügge. Er studierte Geschichte, Niederländisch und Deutsch in Brüssel. Moeyaert war Lyriker der Stadt Antwerpen, seit 2000 ist er Hauptdozent in Creative Writing am Königlichen Konservatorium in Antwerpen. Bart Moeyaert zählt zu den großen europäischen Kinder- und Jugendbuchautoren, seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und in 20 Sprachen übersetzt, auf Deutsch sind sie im Carl Hanser Verlag und im Peter Hammer Verlag erschienen. Für den Roman
Bloße Hände
(dtv) erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Die vorliegende Novelle
Graz
ist sein Prosadebüt für Erwachsene.
www.bartmoeyaert.com
Weitere Kostenlose Bücher