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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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Apotheker. Ein ernster Mann mit Schwielen auf seiner Seele. Ich hatte meine Pyjamahose an, unter meiner Hose, und ich war mitten in der Nacht auf dem Weg zu einer Adresse, von der ich hoffte, dass es einen Briefschlitz in der Tür gäbe, denn dann könnte ich ohne anzuläuten die Brieftasche beim rechtmäßigen Besitzer einfach auf die Matte fallen lassen. Und was ich danach tun würde, wusste ich auch schon.
    Ich atmete tief ein und überquerte tausend Meter von meinem Haus die Heinrichstraße. Die Stadt ließ sich hier von einer anderen Seite sehen. Die Kreuzung glänzte von dem nassen Schnee oder war es schon Eis, die Straßen waren breit, die Stille machte mehr Lärm als in der Maiffredygasse, es kamen da fünf Straßen zusammen.
    Auf dem Geidorfplatz selbst war das Leben ins Stocken geraten. Von den Autos, die hier geparkt standen, waren die Fenster angefroren und die Karosserien auch, sodass es aussah, als ob sie einen Winterschlaf hielten. Es war fast unvorstellbar, dass der Platz im Sommer eine Stelle war, wo die Sonne gerne hinkam. In den Kiosken unter den Bäumen wurden Würstel und Brot und Blumen verkauft. Manchmal schien das Licht, das durch die Blätter fiel, grün. Wenn man nicht genau hinsah, hielt man den Platz für einen Park am Meer.
    Jetzt war es ein dunkler Ort, den man mit gesenktem Kopf überquerte.
    Ich umarmte meine eigene Jacke, passte auf, wo ich lief, weil der Asphalt hier und da durch die wuchernden Baumwurzeln aufgerissen und aufgestülpt war, und kam gegenüber vom Kunstkino heraus. Das Gitter war vor dem Eingang, die Lichter waren gedämpft.
    Mein Herz sackte ein paar Zentimeter ab.
    Das Haus bei Nummer drei zeigte auf sich selbst.
    In der dunklen Fassade waren drei beleuchtete Fenster, wo einfärbig weiße Rollos davorhingen. Zur Türe unter diesen Fenstern musste ich hin.
    In Gedanken sah ich den Freund und die Freundin nebeneinander auf einer niedrigen, braunen Bank sitzen. Sie wechselten Blicke. Der Freund vermisste jemanden an seinem linken Arm und die Freundin vermisste jemanden an ihrem rechten Arm. Die leere Stelle auf der Bank nahm so viel Platz ein, dass es ihnen nicht gelang näher aneinander heranzurücken. Ab und zu kamen ihre Hände einander entgegen, irgendwo auf halbem Wege. Dann saßen sie eine Zeitlang miteinander verbunden, um auf die Glocke zu warten. Den Schlüssel im Schloss. Den Moment, in dem Jochen sich zwischen sie setzen würde. Endlich würden sie die tickende Uhr im Zimmer nebenan nicht mehr hören.
    Ich überlegte, ob ich nicht doch anläuten sollte. Sehr komplex konnte das Gespräch nicht werden. Ich bat um Verzeihung, zeigte auf das Licht, das noch hinter den drei Fenstern brannte. Ich sagte, dass ich durcheinander sei nach dem Unfall, den ich heute Abend knapp verpasst hatte, und dass ich hoffte, dass alles gut sei. Ich hielt die Brieftasche hoch. Ich sagte: „Schau. Ich bringe die Brieftasche zurück, die ich vor meiner Türe gefunden habe. Hier. Bitte. Gute Nacht.“
    Aber ich war hellwach.
    Mein Leben lang habe ich Rat bekommen. Ich musste mich langsam bewegen, wenn die Leute hinsahen, ruhig sein, wenn andere aufgeregt waren. Schweigen, wenn jemand sprach. Der Rat meines Vaters und meines Großvaters war immer auf Gleichgewicht ausgerichtet. Das Ziel war der Nullpunkt auf der Waage. Harmonie.
    Ich überquerte die Fahrbahn, schob mich seitlich zwischen zwei geparkten Autos durch und holte die Brieftasche aus meiner Innentasche. Ich riss mein Herz nicht aus meiner Brust. Ich rieb nur ein Pflaster ab, ein altes.
    Ich drückte die Klappe des Briefschlitzes nach oben, wünschte dem Haus viel Glück und stieß die Brieftasche nach innen. Sie schlug wie eine Hand auf nasse Haut gegen den Boden. Die fallende Bewegung machte ich mit dem Kopf nach. Ich sagte: „So.“
    Erledigt.
    Danach lief ich schnell die Straße hinunter, hin zum Dunkel zwischen zwei Marktbuden.
    Über der Hausnummer ging eine Lampe an. In der Türöffnung erschien eine ältere Frau. Sie hielt sich am Türstock fest und bog sich nach vorne, um auf die Straße zu schauen, links, rechts.
    Ich konnte nicht sehen, ob sie das Alter einer Mutter oder einer Großmutter hatte.
    Sie hielt die Brieftasche in ihrer Hand. In ihrer anderen Hand hatte sie ein Taschentuch. Die Brieftasche hielt sie vor ihr Gesicht. Das Taschentuch auch.
    „Komm einmal?“, rief sie ins Haus hinein. Mit ihrem Fuß stieß sie die Türe zu.
    Sie klickte nicht zu, sie fiel.

The Soul has her own currency
.
    FORSTER

Ich

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