Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe
wäre ein Unruhestifter«, sagte
Lewis wehmütig. »Das scheint so viel Spaß zu ma
chen! Aber so bin ich einfach nicht. Irgendwie …
muss immer irgendwas getan werden, und ich kann
einfach nicht rechtfertigen, mir die Zeit freizuneh
men, nur um selbst Spaß zu haben. Ich hätte ohnehin
nur Schuldgefühle.«
Anne nickte langsam. »Ich weiß wirklich, was du
meinst. Auch in meinem Fall ist der Beruf das ganze
Leben. Du kommst wenigstens herum und erlebst
Abenteuer. Ich sitze viel zu viele Stunden am Tag in
diesem Büro und sehe die Welt auf meinen Bild
schirmen vorbeiziehen. Arbeite an Plänen und Listen
und detaillierten Bestandsaufnahmen, damit der Kö
nig und seine Leute durch den Tag kommen, ohne
übereinander zu stolpern. Aufregung erlebe ich nur,
wenn eine Rechnung fehlt. Mein Leben folgt den Plä
nen, die ich für das Leben anderer aufstelle. Ich lebe
indirekt, vermittelt durch die Menschen bei Hofe.
Über meine Bildschirme.« Sie blickte sich mit finste
rer Miene um, betrachtete die Bänke der Sicherheits
monitore, die fortlaufend wechselnde Eindrücke vom
Hof und seiner Umgebung zeigten. »Es ist nicht …
das Leben, das ich mir mal gewünscht habe.«
Lewis senkte die Teetasse und musterte Anne
gründlich. »Aber … das hast du schon immer ge
macht. Warst schon immer gut darin. Das Leben an
derer für sie zu arrangieren. Das hast du schon ge
macht, als wir noch Kinder waren.«
»Nur weil man etwas gut kann, heißt das noch
lange nicht, dass man dieser Aufgabe sein ganzes
Leben widmen möchte! Du hast doch auch nicht vor,
dein ganzes Leben als Paragon zu verbringen, oder?«
»Na ja, nein, aber …«
Anne blickte in ihre Tasse, damit sie nicht Lewis
ansehen musste. »Ich hätte nicht erwartet, dass mein
Leben eine solche Wendung nimmt. Es ist nicht das,
was ich mir vom Leben gewünscht habe.«
»Es ist ein bisschen früh für eine Midlife-Crisis,
oder?«, fragte Lewis und bemühte sich sehr um einen
lockeren Ton. »Es ist noch reichlich Zeit, dein Leben
zu ändern, um all das zu werden, was du immer sein
wolltest. Falls du deine derzeitige Arbeit leid bist …
mach etwas anderes.«
»Und was?« Anne sah Lewis offen an, und er ent
deckte erstaunt echte Tränen in ihren Augen. Ihre
Lippen bildeten eine zornige Gerade, fast mürrisch.
»Wie du so scharfsinnig festgestellt hast, ist diese
Arbeit das, was ich gut kann. Wozu ich geeignet bin.
Ich bin nicht tapfer wie du. Oder betörend wie Jes.
Ich bin die kleine, stille, zuverlässige Frau, der alle
hier vertrauensvoll das Management ihres Lebens
anvertrauen. Na ja, vielleicht bin ich es aber leid, zu
verlässig zu sein. Vielleicht möchte ich auch mal
ausflippen. Unverantwortlich handeln, nur um zu se
hen, was für ein Gefühl das ist.«
Lewis machte eine ungelenke Handbewegung und
verschüttete dabei Tee, ohne es zu bemerken. »Falls
du das wirklich möchtest … dann komm mit mir.
Übergib den Job hier deinem Stellvertreter und spa
ziere einfach hinaus. Ich nehme dich mit in eine
Kneipe oder sonstwohin. Die wirklich anrüchigen
Kneipen kenne ich zwar nicht, aber ich bin sicher,
dass ich jemanden finde, der sie kennt. Oder wir
könnten …«
»Nein, könnten wir nicht«, erwiderte Anne müde.
»Die Zeremonie beginnt gleich. Sie ist wichtig. Wir
müssen daran teilnehmen, du und ich. Du … weil
Douglas dich brauchen wird. Und ich … ich wüsste
gar nicht, wie ich mich in einer anrüchigen Kneipe
verhalten sollte. Wahrscheinlich säße ich nur in der
Ecke, nippte an meinem Getränk und sähe zu, wie
sich alle anderen amüsierten. Ich bin wie geschaffen
für die Welt hinter den Kulissen, Lewis. Das
Scheinwerferlicht ist nicht der richtige Platz für
mich. Tut mir Leid, Lewis. Ich bin nur müde. Nimm
mich gar nicht zur Kenntnis …«
Sie brach ab, als sie bemerkte, dass Lewis ihr gar
nicht mehr zuhörte. Er drehte sich plötzlich zur Tür
um. Anne folgte seinem Blick, und in diesem Au
genblick hörte sie Schritte und wusste, wer es war,
wer es sein musste. Das angehende Königspaar des
Imperiums. Die wichtigen Leute. Lewis stellte seine
Tasse weg und stand auf.
»Das kann nur Douglas sein, und ich muss vor der
Zeremonie mit ihm reden. Entschuldige mich einen
Augenblick lang, Anne. Ich bin gleich zurück.«
Und er war zur Tür hinaus, einfach so. Anne blick
te auf ihre Bildschirme, und andere Menschen blick
ten dort zurück, sahen sie jedoch nicht. Im Grunde
ihre Lebensgeschichte. Niemand sah jemals die
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