Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Schlag am Handgelenk traf. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand. Er wandte den Kopf und sah eine große, pelzige Gestalt, die ihn aus dem Schatten ansprang.
Es war eine Ratte, und sie hatte ihn erwartet.
3. Kapitel
G regor schwang das Brecheisen, aber die Ratte schnappte es mit den Zähnen und riss ihn mit sich. Einen Augenblick lang hing er in der Luft, dann landete er hart auf dem Bauch. Das Brecheisen fiel klirrend zu Boden, und hätte er sich nicht gerade noch mit den Händen abgefangen, wäre er mit dem Gesicht auf den kalten Zement geschlagen.
»Gregor!« Das war sein Vater, der erschrocken aufschrie, als die Ratte Gregor mit ihrem ganzen Gewicht zu Boden drückte. Hilflos versuchte er sich umzudrehen.
»Erbärmlich. Einfach erbärmlich«, zischte ihm eine vertraute Stimme ins Ohr. Gregor spürte eine Woge der Erleichterung, die sofort in Wut umschlug. »Mann, geh von mir runter!«
Die Ratte rutschte lediglich in eine bequemere Position. »Siehst du, sobald du dein Licht verlierst, bist du so gut wie tot.«
Jetzt wurden sie von der Taschenlampe angestrahlt. Gregor blinzelte und sah, wie sein Vater mit einem Zementblock in der Hand auf sie zukam.
»Lass ihn los!«, rief sein Vater und hob den Zementblock hoch.
»Alles in Ordnung, Dad! Es ist nur Ripred!« Gregor versuchte sich zu befreien, aber die Ratte wog mindestens eine Tonne. »Er ist ein Freund«, versuchte er seinem Vater zu versichern, obwohl es doch ein wenig zu weit ging, Ripred als Freund zu bezeichnen.
»Ripred?«, sagte sein Vater. »Ripred?« Seine Brust hob und senkte sich und sein Blick war wirr, als er versuchte, den Namen einzuordnen.
»Ja, ich versuche Ihrem Sohn ein paar Überlebenstipps zu geben, aber er hört einfach nicht.« Ripred stand auf und drehte Gregor mühelos mit einer Pfote auf den Rücken. Ein vorwurfsvoller Ausdruck lag auf dem narbigen Gesicht der Ratte. »Du hast deine Hausaufgaben in Ultraschallortung nicht gemacht, stimmt’s?«
»Doch!«, rief Gregor. »Ich übe mit meiner Schwester.«
Das stimmte, allerdings verschwieg Gregor, dass er es vor allem deshalb machte, weil Lizzie ihn ständig dazu anhielt. Wenn es um Hausaufgaben ging, war sie sehr gewissenhaft. Als sie erfuhr, dass Ripred von Gregor verlangte, er solle Ultraschallortung üben, nahm sie das sehr ernst. Mindestens dreimal pro Woche zerrte sie ihn in irgendeine Ecke des Gebäudes – in den Flur, ins Treppenhaus oder in denHauseingang – und verband ihm die Augen. Dann musste er mit der Zunge schnalzen und Lizzie suchen. Das Geräusch des Schnalzens sollte von ihr abprallen, und daraus sollte er dann irgendwie schließen, wo sie stand. Aber sosehr Gregor sich auch bemühte, seine Fortschritte in Ultraschallortung ließen zu wünschen übrig.
Jetzt, da Ripred ihm deswegen aufs Dach stieg, versuchte Gregor sich zu verteidigen. »Ich hab dir ja gesagt, dass Ultraschallortung nichts für mich ist. Wo steckt Vikus überhaupt?«
»Der kommt nicht«, sagte Ripred.
»Aber er hat mir doch von der Prophezeiung des Bluts geschrieben. Ich dachte, wir treffen uns hier«, sagte Gregor.
»Und ich dachte, du kommst allein«, sagte Ripred. Er setzte sich auf die Hinterbacken und schaute Gregors Vater an. »Kennen Sie mich noch?«
Gregors Vater hielt immer noch den Zementbrocken fest, aber er hatte ihn jetzt neben sich auf den Boden gelegt. Er starrte Ripred an, als wollte er sich an jemanden aus einem Traum erinnern. Aus einem langen Traum von Hunger und Einsamkeit und Angst und höhnischen Stimmen im Dunkeln. Stimmen von Ratten. Wie die vor seiner Nase. Er runzelte die Stirn, während er versuchte, den Wirrwarr in seinen Gedanken zu ordnen. »Du hast mir etwas zu essen gebracht. Unten in der Grube … da hast du mir manchmal etwas zu essen gebracht.«
»Das stimmt«, sagte Ripred. »Und hat mir hier mal einer was zu essen gebracht? Ich bin halb verhungert.«
Ripred sah wirklich dünner aus als sonst. Sein Bauch war ein wenig geschrumpft und die Knochen in seinem Gesicht traten stärker hervor.
Gregor hatte nicht vorgehabt, Ripred zu treffen, und schon gar nicht, ihm Essen zu bringen. Aber er fasste automatisch in die Jackentaschen. Seine Finger fanden einen verirrten Glückskeks vom Vorabend und er holte ihn heraus. »Da«, sagte er.
»Ach, du liebe Zeit!«, rief Ripred übertrieben erstaunt. »Ist das alles für mich?«
»Mann, ich wusste doch gar nicht …«, setzte Gregor an.
»Nein, bitte. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ripreds
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