Gregor und der Spiegel der Wahrheit
entfacht
herrscht im Unterland ewige Nacht.
Dreht euch um und um und um
ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.
Wenn Heilung und Böses sich verweben
formt sich eine aus zwei Reben.
Gregor hatte schon zwei Prophezeiungen des Mannes hinter sich, der auch diese geschrieben hatte. Bartholomäus von Sandwich. Sandwich hatte die Unterländer damals tief unter die Erde geführt und die Menschenstadt Regalia gegründet. Nach seinem Tod hatte er einen Raum aus Stein hinterlassen, dessen Wände über und über mit Prophezeiungen beschrieben waren, Sandwichs Zukunftsvisionen. Nicht nur die Menschen, alle Lebewesen im Unterland glaubten, dass Sandwich Ereignisse voraussehen konnte.
Sandwichs Prophezeiungen lösten bei Gregor ganz unterschiedliche Gefühle aus. Manchmal hasste er sie. Manchmal war er dankbar dafür, weil sie den Weg wiesen, wenn auch so rätselhaft, dass es alles Mögliche bedeuten konnte. Doch zwischen den Zeilen bekam man meistens eine Vorstellung davon, was einen erwartete. Wie hier zum Beispiel:
Von Blut zu Blut gelangt das Leiden
frisst euch an den Eingeweiden
malt euch Flecken purpurrot
bringt den Warmblütern den Tod.
Gregor war zu dem Schluss gelangt, dass es um irgendeine tödliche Krankheit ging, mit der sich viele anstecken würden. Nicht nur Menschen, sondern alle Warmblüter. Alle Säugetiere. Im Unterland waren das auch die Ratten und die Fledermäuse … Gregor hatte keine Ahnung, welche anderen Lebewesen noch betroffen sein könnten.
Der Krieger wird bald bei euch sein
ist sein Herz noch nicht aus Stein.
Holt die Prinzessin oder verzagt;
kein Krabbler, der es ohne sie wagt.
Der Krieger war Gregor, da machte er sich gar nichts vor. Er wollte nicht der Krieger sein. Er fand es schrecklich, zu kämpfen, und er fand es auch schrecklich, dass er so gut darin war. Aber nachdem er zwei Prophezeiungen als Krieger erfolgreich erfüllt hatte, glaubte er nicht mehr, dass die Unterländer den Falschen erwischt hatten.
Dann war da die Prinzessin … Er hoffte immer noch, dass damit nicht Boots gemeint war. Die Krabbler, wie die Kakerlaken im Unterland hießen, nannten sie die Prinzessin, aber eigentlich war sie ja gar keine. Vielleicht hatten die Krabbler eine eigene Prinzessin, die sie holen konnten.
Die folgenden Strophen deuteten darauf hin, dass die Menschen und die Nager – die Ratten – sich zusammentun mussten, um ein Heilmittel für die Krankheit zu finden. Na, die würden begeistert sein! Sie hatten ja nur ein paar Jahrhunderte lang versucht, sich gegenseitig umzubringen. Und am Ende kam die übliche Voraussage, dass, wenn es nicht klappte, alles zerstört würde und alle sterben müssten.
Gregor fragte sich, ob Sandwich wohl jemals eine optimistische Prophezeiung geschrieben hatte. Eine über Frieden und Freude und Ende gut, alles gut. Wahrscheinlich nicht.
Was ihn an der Prophezeiung des Bluts völlig verrückt machte, war die Strophe, die viermal vorkam. Als wollte Sandwich sie ihm ins Hirn trommeln.
Dreht euch um und um und um
ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.
Wenn Heilung und Böses sich verweben
formt sich eine aus zwei Reben.
Was sollte das bedeuten? Das war völliger Unsinn! Gregor musste mit Vikus reden. Er war nicht nur Luxas Großvater und einer der einflussreichsten Leute in Regalia, sondern auch einer der besten Deuter von Sandwichs Prophezeiungen. Wenn irgendwer diese Strophe erklären konnte, dann er.
Jetzt erst merkte Gregor, dass er auf dem Treppenabsatz seiner Etage stand und sich krampfhaft am Treppengeländer festklammerte. Er wusste nicht, wie lange er schon so dastand. Aber jetzt musste er seine Arbeit bei Mrs Cormaci erledigen und wieder nach Hause gehen.
Falls er zu lange weg gewesen war, so hatte sie es offenbar nicht bemerkt. Sie gab ihm die üblichen vierzig Dollar und dazu eine große Schüssel Eintopf fürs Abendessen. Als er ging, wickelte sie ihm noch einen Schal um den Hals, denn: »Ich hab so viele Schals, dass man damit ein Pferd ersticken könnte.« Mrs Cormaci ließ ihn nie mit leeren Händen gehen.
Als er wieder zu Hause war, nutzte Gregor die nächste Gelegenheit, um mit seinem Vater allein in der Küche zu reden, und zeigte ihm den Brief von Vikus. Als sein Vater ihn las, wurde seine Miene ernst.
»Die Prophezeiung des Bluts. Weißt du, was das ist, Gregor?«, fragte er.
Wortlos reichte Gregor ihm die Schriftrolle mit der Prophezeiung. Sie war vom vielen Lesen zerknittert und verschmutzt.
»Wie lange hast du die schon?«,
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