Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Verdammt, ihm war ja noch nicht mal eine Ausrede eingefallen, warum er nicht mit in den Wäschekeller konnte!
Als sie wieder oben waren, wärmte Mrs Cormaci eine selbst gemachte Hühnersuppe auf und verteilte sie großzügig. Gregor aß mechanisch und versuchte mitzubekommen, was Mrs Cormaci sagte, obwohl er nur mit halbem Ohr zuhörte. Nach der Suppe gab es Kuchen, und während sie aßen, schaute Mrs Cormaci auf die Uhr und sagte: »Jetzt müsste der Teppich eigentlich so weit sein, dass er in den Trockner kann.«
»Ich mach das!« Gregor sprang so schnell auf, dass sein Stuhl hintenüberkippte. So beiläufig wie möglich stellte er den Stuhl wieder hin. »Entschuldigung. Ich kann den Teppich in den Trockner stecken.«
Mrs Cormaci sah ihn befremdet an. »Na gut.«
»Ich meine, wir müssen ja nicht beide runtergehen«, sagte Gregor mit einem Achselzucken.
»Da hast du recht.« Sie gab ihm ein paar Fünfundzwanzigcentstücke und sah ihn prüfend an. »Wieso benutzt ihr den Wäschekeller eigentlich nicht mehr?«
»Was?« Jetzt hatte sie ihn kalt erwischt.
»Wieso geht ihr den weiten Weg bis zu dem Waschsalon beim Metzger?«, fragte sie. »Es kostet dasselbe, ich hab geguckt.«
»Weil … weil … die Waschmaschinen da … die sind größer«, sagte Gregor. Das stimmte sogar. Es war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber auch nicht ganz gelogen.
Mrs Cormaci starrte ihn einen Augenblick an und schüttelte den Kopf. »Dann steck jetzt den Teppich in den Trockner«, sagte sie nur.
So langsam war der Aufzug noch nie gewesen. Leute stiegen ein, Leute stiegen aus, eine Frau hielt eine halbe Ewigkeit die Tür auf, weil ihr Kind noch mal in die Wohnung laufen und eine Mütze holen musste. Als Gregor endlich im Wäschekeller war, musste er auf einen Typ warten, der offenbar seit einem Monat nicht gewaschen hatte und nun sechs Maschinen füllte.
Gregor steckte den Teppich langsam und umständlich in den Trockner an der Wand, bis der Typ schließlich ging. Als die Luft rein war, beugte er sich hinunter und zog die Schriftrolle heraus. Er ließ sie im Ärmel seines Sweatshirts verschwinden und ging hinaus. Er lief am Aufzug vorbei, huschte ins Treppenhaus und machte die Tür fest hinter sich zu. Er ging ein Stockwerk hoch und setzte sich auf den Treppenabsatz. Hier würde ihn keiner stören, nicht solange der Aufzug funktionierte.
Er ließ die Schriftrolle aus dem Ärmel gleiten und öffnete sie mit zitternden Händen. Er las:
Lieber Gregor,
wir müssen uns so bald als möglich sehen. Schlag vier werde ich an der Treppe sein, an der Ares dich abzusetzen pflegt. Unser Schicksal liegt in deinen Händen. Die Prophezeiung des Bluts ist über uns gekommen.
Bitte lasse deine Freunde nicht im Stich.
Vikus
Gregor las den Brief drei Mal, bevor er begriff, was da stand. Er hatte etwas anderes erwartet. Vikus schrieb nichts über Luxa und die anderen verschwundenen Freunde. Er schrieb nichts über Ares. Stattdessen sandte er einen verzweifelten Hilferuf.
Die Prophezeiung des Bluts ist über uns gekommen.
Sie ist hier, dachte Gregor. Sein Herz begann heftig zu klopfen, als ihm die Gefahr bewusst wurde. Die Prophezeiung des Bluts.
Er brauchte gar keinen Spiegel mehr, um sie zu lesen, obwohl es ihm bei der Deutung manchmal half, die Worte zu sehen. Aber er kannte das Gedicht längst auswendig. Die Worte hatten einen Rhythmus, der sich einprägte, wie diese nervigen Liedchen in der Fernsehwerbung. Jetzt hatte er die Melodie im Kopf, sie passte sich dem Takt seiner Schritte an, als er langsam die Treppe hochging.
Von Blut zu Blut gelangt das Leiden
frisst euch an den Eingeweiden
malt euch Flecken purpurrot
bringt den Warmblütern den Tod.
Dreht euch um und um und um
ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.
Wenn Heilung und Böses sich verweben
formt sich eine aus zwei Reben.
Der Krieger wird bald bei euch sein
ist sein Herz noch nicht aus Stein.
Holt die Prinzessin oder verzagt;
kein Krabbler, der es ohne sie wagt.
Dreht euch um und um und um
ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.
Wenn Heilung und Böses sich verweben
formt sich eine aus zwei Reben.
Jeder aus warmem Fleisch und Blut
macht sich auf zu dem kostbaren Gut.
Wer die Wiege des Übels sucht
findet das Mittel gegen den Fluch.
Dreht euch um und um und um
ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.
Wenn Heilung und Böses sich verweben
formt sich eine aus zwei Reben.
Mensch und Nager, lasst beiseit
euren Hass und euren Streit.
Werden die Flammen des Krieges
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